Vilém Flusser in Europa
Andreas Müller-Pohle
Der folgende Vortrag rekonstruiert die europäische Wirkungsgeschichte Vilém Flussers von 1972 bis 1998. Er skizziert die doppelte Rezeption entlang seiner Unterscheidung zwischen „Leuten des Wortes“ und „Leuten des Bildes“, beginnend mit der kontroversen, später euphorischen Aufnahme seiner Medienphilosophie im deutschsprachigen Raum bis hin zu deren wissenschaftlicher Aufarbeitung und der institutionellen Etablierung seines Nachlasses. Der Text beleuchtet Flussers publizistische Präsenz, seine kritische Begleitung fotografischer Arbeiten und die Entwicklung seines Denkstils zur Philosophiefiktion.
The following lecture reconstructs Vilém Flusser’s European impact from 1972 to 1998. It outlines the dual engagement framed by his distinction between “people of the word” and “people of the image,” beginning with the controversial, later enthusiastic embrace of his media philosophy in the German-speaking world through to its scholarly analysis and the institutional establishment of his archive. The text examines Flusser’s publishing presence, his critical engagement with photographic work, and the development of his thinking towards philosophy as fiction.
1. In Europa
An einem frühen Morgen im Mai 1972 trafen Vilém und Edith Flusser aus São Paulo kommend in Genf ein, um von hier aus Kontakte zu europäischen Künstlern und Intellektuellen zu knüpfen. Sie reisten im Auftrag der Biennale von São Paulo, in deren Beirat Flusser tätig war, und er hatte diesen speziellen Auftrag nur zu gern angenommen. Denn seit der Machtübernahme durch die Militärs im Jahre 1964 waren seine Arbeitsmöglichkeiten kontinuierlich eingeschränkt worden: Publikationshindernisse, Bespitzelungen im Auditorium, eine Anzeige wegen eines Marxismus-Seminars – die Situation hatte begonnen, ungemütlich zu werden. Genf also als Auftakt des neuen, des europäischen Wirkungsabschnitts Vilém Flussers.
Fast zehn Jahre lang lebten die beiden bald im italienischen Meran, wo sie die Wintermonate verbrachten, bald in der Loire-Gegend in einem verfallenen Schloss, um schließlich 1980 ein nicht minder verfallenes Steinhaus in Robion in Südfrankreich zu erwerben, das sie vollständig renovierten und im Jahr darauf bezogen. Während der Umbauzeit wurde London ihr Domizil, und zwischen diesen wechselnden Wohnsitzen waren sie die meiste Zeit mit dem Auto durch Süd- und Mitteleuropa unterwegs – nicht selten mit Tagesstrecken von tausend Kilometern. Robion sollte, bis zu Vilém Flussers Unfalltod im November 1991, ihre neue Heimstätte zwischen zahllosen weiteren Reisen bleiben.
In Paris schloss Flusser sehr bald Bekanntschaft mit Fred Forest, dem Videopionier und Begründer der art sociologique, und Louis Bec, mit dem ihn eine tiefe Freundschaft verbinden sollte. Über Fred Forest und das Medium Video kam er dann zur Fotografie. Anlässlich der 6. Rencontres de la Photographie im südfranzösischen Arles 1975, bei der Flusser über „Die Geste der Fotografie“ sprach, wurde die Galeristin Anna Auer auf ihn aufmerksam, die ihn schließlich zu einem Symposium über „Kritik und Fotografie“ im Juni 1980 nach Wien einlud.
Es war dies Flussers erster öffentlicher Auftritt im deutschen Sprachraum. Ihm folgte bald darauf ein zweiter. Die deutsche Fotografin Erika Kiffl, die Flusser in Wien kennengelernt hatte, lud ihn zur Teilnahme an dem von ihr organisierten „Internationalen Fotosymposion Schloss Mickeln“ im Februar 1981 nach Düsseldorf ein. Hier lernte ich, als Mitreferent, Vilém Flusser persönlich kennen, ab hier beginnt sein umfassendes publizistisches Wirken in Deutschland und Österreich, und ab hier kann ich authentisch berichten.
Vilém Flusser unterteilte die ihn umgebenden Freunde und Streiter gern in Leute, die „vom Wort herkommen“ und solche, die „vom Bild herkommen“. Zur ersten Gruppe zählte er die schreibenden Intellektuellen, zur zweiten die Künstler. Ich möchte dieser Unterteilung insofern folgen, als ich zunächst die mediale Flusser-Rezeption ab 1982 nachzeichnen will, um anschließend auf Flussers Zusammenarbeit mit Künstlern einzugehen. Den dritten Teil bildet ein knapper Blick auf die aktuelle Stimmung: Wie sehen wir Flusser heute, fast ein Jahrzehnt nach seinem Tode?
2. Flusser und die Leute des Wortes
Mit dem Erscheinen der „Fotophilosophie“ im Mai 1983 gewann Flusser bald Einfluss nicht nur in der Foto- und Kunstszene, sondern auch in Teilen der deutschen Kulturpublizistik. Nach wenigen Monaten hatte sich eine Gruppe engagierter Intellektueller gebildet, die Flusser publizistisch unterstützten – darunter der Politologe Harry Pross, der Publizist Volker Rapsch, der Filmemacher Harun Farocki, der Fotoprofessor Gottfried Jäger, um nur einige der frühen Wegbegleiter zu nennen.
Flussers plötzlicher Einbruch in die Fotografiedebatte der frühen 80er Jahre, die überwiegend um so brisante Fragen wie „Ist Fotografie Kunst?“ oder „Gehört Fotografie ins Museum?“ kreiste, stieß indes auch auf Abwehr, und dies schon auf dem Düsseldorfer Symposium. Jedenfalls bei jenen, die sich selbst für schlau genug hielten, um auf einen wie Flusser verzichten zu können – diesen altdeutsch dozierenden bärtigen Gelehrten aus dem fernen Brasilien, von dem niemand zuvor je gehört hatte und der nun die Jungen nächtens unter den Tisch diskutierte und ihre Ohren mit Erzählungen von Runden Tischen in São Paulo und Begriffen wie Technoimagination zum Glühen brachte.
Einer der ersten Verrisse der „Fotophilosophie“ stammt von dem Hochschulprofessor Rolf Sachsse. Für ihn ist Flusser „ein in Europa von Vortrag zu Vortrag und von Interview zu Interview reisender Philosoph, der sich in nie abreißenden Strömen weitschweifiger Erklärungen mit allen Höhen und Niederlagen unserer Kultur beschäftigt“. Seine These von der Fotografie als Modell nachindustriellen Lebens hält der Rezensent geeignet „für einen weingeschwängerten Schlagabtausch zweier Feierabendphilosophen“. Das Buch sei „ein Traktat, wie es vor 100 Jahren zu jedem gegebenen Anlass geschrieben wurde“, eine „intellektuelle Kuriosität“. (Rosa: PdF. In: foto-scene 9/1983). In einem zweiten Verriss in der Zeitschrift Fotografie polemisiert Sachsse munter weiter, wenn er Flusser einen „unverbesserlichen Positivisten“ nennt, „dem obendrein völlig unqualifizierte Seitenhiebe auf marxistisches Denken entfahren“ und von dem „hier unverfroren Ansätze aufgewärmt werden, die durch die Diskussion informationstheoretischer Ästhetiken und ihrer Beschränktheit seit gut zehn Jahren ad acta gelegt sind“ (Rolf Sachsse: PdF. In: Fotografie 30/31, 1984).
Solche Tiraden bleiben die Ausnahme und erklären sich nicht zuletzt aus dem Missverständnis, es bei der „Fotophilosophie“ mit einer singulären Medientheorie zu tun zu haben, einer Medientheorie zudem, die provokant das antiapparatische Experiment gegen das dokumentarische Knipsen stellt und in dieser dezidierten Parteinahme zwangsläufig Gegner produziert. Mit dem Erscheinen des zweiten Essays in deutscher Sprache, dem Folgeband zur „Fotophilosophie“ Ins Universum der technischen Bilder im Jahre 1985, erkennen zahlreiche Kritiker Flussers Exzeptionalität im ansonsten seichten Gewässer der Mediendiskussion der 80er Jahre und, wichtiger noch, seine Tragweite als Denker des Zeitgenössischen (seine Tragweite als Denker aller Zeiten wird erst nach seinem Tode ersichtlich). Spätestens jetzt wird klar, dass die Fotografie Flusser als Prätext dient: Während die Fototheorien vor ihm üblicherweise auf die Fotografie zugehen, geht er von der Fotografie aus. Enno Kaufhold, der in einer Rezension der „Fotophilosophie“ noch urteilte, Flussers „Bemühen um Aufklärung, so engagiert es auch sein mag, mündet jedoch in Magie“ (Enno Kaufhold: PdF. In: Fotogeschichte 12/1984), kommt nun zu dem Schluss: „Ungeachtet der grundsätzlichen Einwände sind Flussers ‚radikale‘ Überlegungen anregender und durch den provozierten Widerspruch konstruktiver als das gängige Kultur- und Theoriegewäsch.“ (Enno Kaufhold: V.F.: Ins Universum der technischen Bilder. Fotogeschichte 17/1985).
Was sich nun herausbildet, ist ein regelrechter Flusser-Kult, eine Bewunderung und Verehrung, die aus den Schriften allein nicht zu erklären ist, sondern mit der leibhaftigen Erscheinung und Persönlichkeit Flussers zu tun hat – diesem alttestamentarisch anmutenden und zugleich selten jugendlichen Menschen, der von Begeisterung und Lebensfreude erfüllt ist, zum Bersten kommunikativ und den Menschen vorbehaltlos zugewandt, einem exzeptionellen Rhetoriker mit einem strukturellen und Detailwissen, das einen in Ehrfurcht zu versetzen vermochte. (Ich meine wirklich Ehrfurcht und habe dies oft genug erlebt.) Ab 1985 – die „Fotophilosophie“ geht in die zweite Auflage – entsteht also eine regelrechte Flusser-Begeisterung in Deutschland, und wer sie teilt, geht in der Wahl der Worte großzügig um: „Einer der radikalsten Verfechter der neuen Welt der technischen Bilder . . . In den USA und Lateinamerika hochgeschätzt, gilt es ihn in Europa noch zu entdecken“, schreibt die Süddeutsche Zeitung am 13.9.1985. – Dass Flusser zu dieser Zeit in den USA gerade mal einen Artikel veröffentlicht hat und sich Lateinamerika auf Brasilien reduziert, tut der Euphorie keinen Abbruch. „Flusser und Bec erweitern das Feld unserer Träume“, wird Abraham Moles in der Tageszeitung vom 30.9.1986 zitiert. – „Flusser ist Optimist und glaubt an die Zukunft“ verkündet Jörg Albrecht im WDR (9.9.1987). – „Flusser geht über McLuhan hinaus. […] Ach hätten wir doch mehr solch geistreicher, origineller Philosophen, deren Texte dazu poetisch sind – das Denken könnte zum Vergnügen werden.“ (Lisette Buchholz: Vilém Flusser: Die Schrift. In: Der andere Buchladen/Postille 31, Mannheim o. J.) – Und, besonders schön: „Der ehemalige Direktor einer Transformatorenfabrik und jetzige Professor für Kommunikationsphilosophie in São Paulo, Vilém Flusser, ist der Geheimtip aller high-tech-Inspirierten.“ (Wolfgang Preikschat: Das Zeitalter der Buchstaben ist am Ende. In: Pflasterstrand 256, o. J.)
Im Februar 1987 erscheint im Verlag Immatrix Publications, den ich in der Zwischenzeit zusammen mit Volker Rapsch gegründet habe, der Essay Die Schrift – Hat Schreiben Zukunft?, und zwar sowohl als Buch wie auch auf Diskette – ein damals einmaliges und, wie sich herausstellt, zu frühes Experiment. Mit beiden Veröffentlichungen erweitert sich das Feld der Rezipienten und Rezensenten Flussers deutlich, ohne dass damit freilich sein Ruf als „Computer-Philosoph“ und „radikaler Vordenker der neuen Techniken“ (Michael Schmidt-Klingenberg: Die Macht geht auf blöde Apparate über. In: Der Spiegel, 8.5.1989) in Frage gerät. Immerhin wird Flusser nun nicht mehr nur zu Walter Benjamin, Roland Barthes und Susan Sontag in Beziehung gesetzt (vgl. Vicki Goldberg in: American Photographer 6/12/1985), sondern, zum Beispiel, zu Schopenhauer: „Weil Flusser zugleich Moralist, Fatalist und Melancholiker ist – die Spuren von Schopenhauer sind bei ihm unübersehbar –, entsteht aus dieser seltsamen Verbindung ein faszinierendes ambivalentes Denken, das, wie bei Propheten so üblich, zwischen Untergangsstimmung und verklärender Verheißung schwankt” (Florian Rötzer: Am Ende angelangt. In: Die Tageszeitung, 29.3.1988). Vilém Flusser wird von den „Leuten des Wortes“ bald zum Geheimtip, bald zur Kultfigur, bald zum Philosophenstar gekürt – durchweg zweifelhafte Versuche, das „Phänomen Flusser“ zu fassen. Solch mediengängiger Typisierung vermochte sich Die Zeit nicht anschließen und fragte, sichtlich ratlos: „Vielleicht war ja der freundliche Weißbart ein allerletzter Universalgelehrter, der etwas unerwartet im nachideologischen Restsäkulum den homo philosophicus traditionalis zu mächtigem Wort kommen ließ“ (Die Zeit, 6.12.1991).
Vom akademischen Betrieb indes wurde dieser „allerletzte Universalgelehrte“ und philosophierende Nomade bis zu seinem Tode ignoriert, mit wenigen Ausnahmen, darunter Friedrich Kittler, der ihn 1991 einlud, an der Universität Bochum ein Blockseminar über Kommunikation abzuhalten. Flussers Verhältnis zum Establishment war ansonsten ein ambivalentes: Während es ihn einerseits zum Mainstream und seinen etablierten Institutionen hinzog („Sie müssen ins Zentrum vorstoßen, wenn Sie etwas bewirken wollen,“ erwiderte er einmal auf den Vorwurf, „die Sprache der Herrschenden“ zu sprechen), entsprach seiner exzessiven Freiheitsliebe doch vor allem die Rolle des subversiven Networkers. Und bezeichnenderweise ist es über seinen Tod hinaus ein Netzwerk gewesen – ein „Netzwerk der Freunde Vilém Flussers“, Supposé mit Namen –, das sich an seiner Arbeit engagiert, auch wenn mit der Kunsthochschule für Medien in Köln nun eine verlässliche Heimstatt für das Flusser-Archiv gefunden worden ist.
Mit dem zeitlichen Abstand von nun über sieben Jahren seit seinem Unfalltod erreicht die Beschäftigung mit Vilém Flusser gegenwärtig eine neue Qualität. War bis vor wenigen Jahren das Feuilleton die wichtigste Säule der Flusser-Rezeption, so tritt nun die wissenschaftliche Aufarbeitung hinzu, was nicht nur an der Zahl der Fußnoten und Quellenangaben zu Flusser ablesbar ist, sondern auch an der Thematisierung Flussers in Magister- und Doktorarbeiten. Zur bisweilen von enthusiasmischem Überschwang geleiteten Publizistik gesellt sich nun das spröde Tun der Gelehrten – mit mal erhellenden, mal verdüsternden Resultaten. Zu letzteren zählt Elizabeth Neswalds 1998 erschienene Medien-Theologie. Das Werk Vilém Flussers, die ihr Doktorvater Hartmut Böhme die „erste wirklich wissenschaftliche Arbeit zu Vilém Flusser“ nennt. Wäre sie nur, wie Matthias Grolls im gleichen Jahr erschienene Arbeit Das Digital, ruhig einen Deut weniger „wirklich wissenschaftlich“ und eine Spur authentischer ausgefallen. So hat Frau Neswald, ohne je das Flusser-Archiv oder Edith Flusser oder sonst eine außerhalb ihrer Bibliothek zugängliche Quelle bemüht zu haben, den Spirit Flussers auf selten eklatante Weise verfehlt; immerhin, das Werk zählt 412 Fußnoten.
3. Flusser und die Leute des Bildes
Als Phänomenologe war Flusser ein „Denkbildner“, ein Designer philosophischer Interfaces, mit denen er uns unwahrscheinliche, ungewohnheitsmäßige Betrachtungs- und Verstehensweisen der uns umgebenden Erscheinungen und der darunter verborgenen Strukturen und Tendenzen eröffnete. Flussers Suche nach Wahrscheinlichkeit – als zeitgenössischem Konzept dessen, was bis zur Quantenphysik die Wahrheit war – brachte indes höchst Unwahrscheinliches zutage. Zwischen der „Fotophilosophie“ und Flussers letzten beiden Arbeiten, dem Vampyroteuthis infernalis (November 1987) und Angenommen – Eine Szenenfolge (Mai 1989), entwickelt sich kontinuierlich ein neuer Philosophiestil, den Abraham Moles zutreffend als „Philosophiefiktion“ beschreibt. Stand der erste Band methodisch noch im Zeichen eines „ordentlichen Philosophierens“, so verunschärft sich Flussers Essayistik in Angenommen zu einem fiktiven Spiel mit Möglichkeiten und Szenarien. Denn Flussers Wahrscheinlichkeiten waren „fiktionär“, das heißt, sie waren noch nicht in der Gegenwart angekommen. Eine solche Philosophie der unwahrscheinlichen Wahrscheinlichkeiten zielt nicht auf Gegenstände (um an ihnen abzuprallen), sondern wendet alles in Rohstoff, Material, Prätext des Denkens.
So gesehen war Flusser ein Künstler. Als solcher bezeichnete er sich freilich nicht, jedenfalls nicht explizit, ebensowenig wie, im übrigen, als Philosophen – ein zu großes Wort, wie er häufig bemerkte, um es ungeniert auf sich selbst anwenden zu können. Aber Flussers Hunger nach Menschen, die „an der Herstellung von Informationen engagiert“ sind, machte ihn zu einem Freund und Begleiter der Künstler, und hier überwiegend jener, die sich der technischen Medien bedienten und ihre Arbeit als Teil einer umfassenderen ästhetisch-erkenntnistheoretischen Forschung betrieben. Mehr als Malerei und Plastik interessierten Flusser Film, Fotografie, Video, Computer – Medien übrigens, die er strukturell, nicht jedoch funktionell beherrschte. Und es liegt auf der Hand, dass er mit dem Erscheinen der „Fotophilosophie“ vor allem auf die Fotografen Einfluss gewann und sich umgekehrt von ihnen inspirieren ließ. Fotografen waren für ihn Leute, die gegen das Apparatprogramm spielen, die sich seiner Gebrauchsanweisung widersetzen und nach neuen, vom Programm nicht vorgesehenen Möglichkeiten suchen. Die das nicht taten, waren die Knipser, die Funktionäre des Fotoapparats, die Flusser gern als verlängerte Selbstauslöser des Apparats bezeichnete.
Ich stelle Ihnen nun einige Arbeiten vor, die Flusser durch Analysen und Kommentare begleitete. Aus chronologischen Gründen beginne ich mit einem meiner eigenen Projekte, Transformance, das Flusser auf dem Düsseldorfer Symposium 1981 kennengelernt hatte und zu dem er zwei Essays verfasste, einen 1983 und einen 1988 veröffentlichten. Das Projekt bestand prinzipiell aus zwei Schritten: erstens, eine große Zahl von Aufnahmen, 10.000 genau, aus freier Hand aufzunehmen, das heißt ohne durch den Sucher der Kamera zu schauen; zweitens, aus dem so entstandenen Zufallsmaterial eine Auswahl zu treffen, für die die Kriterien zum Zeitpunkt der Aufnahme noch nicht bekannt sein konnten. Vilém Flusser applizierte dieses Konzept vollkommen auf seine in der „Fotophilosophie“ vorgetragene Apparatetheorie und kam zu der folgenden Zusammenfassung: „Dieses Buch belegt einen Versuch, die Kamera in den Griff zu bekommen, wobei sich das Auge im ersten Schritt gleichsam blind stellt, um im zweiten Schritt kritisch betrachten zu können, was die Kamera blindlings produziert hat: nämlich den sturen Zufall. Einen Zufall allerdings, dem Gestalt verliehen und der informiert werden kann. Insofern beinhaltet dieses Buch drei Subversionen: die Subversion des Apparatprogramms, die Subversion der ontologischen Stellung der Fotografien und die Subversion des Begriffs ‚Freiheit‘. Und es eröffnet den Blick darauf, was ein Leben in einer von Kameras und ähnlichen Apparaten gekennzeichneten Welt sein könnte – nämlich das absichtliche, kreative Informieren des von ihnen hergestellten Zufalls.“
Das zweite monografische Fotoprojekt, das Flusser mit einem Buchessay einleitete, war Joan Fontcubertas Herbarium. Fontcubertas Idee war, den systematisch-rigiden Dokumentaransatz in der Fotografie, wie er von Karl Bloßfeldt meisterlich vorgeführt worden war, mit „fiktiven“, „konstruierten“ Pflanzen zu konterkarieren. Allerdings interessierte sich Flusser überhaupt nicht für Bloßfeldt, worüber Fontcuberta einigermaßen entsetzt war, sondern nahm die Fotos zum Anlass für eine Betrachtung der Kategorien Natur/Kultur: „In der ‚Natur‘– was immer dieser zweifelhafte Begriff bedeuten mag – entstehen neue genetische Informationen durch Irrtum, durch fehlerhafte Informationsübertragung von einer Unterlage auf eine andere. Die überwältigende Mehrheit derart erzeugter Informationen ist bedeutungsloser Unsinn, und nur eine winzige Minderheit solcher Mutationen führt zu neuen Arten und ist verantwortlich für die biologische Entwicklung. Das heißt: Die ‚Natur‘ (was immer das bedeuten mag) ist außerordentlich dumm, und was wir an Pflanzen so sehr bewundern, ist eben diese außerordentliche Dummheit.“
Während Flusser die handwerklich basierte Arbeit Fontcubertas durchaus schätzte, machte er doch keinen Hehl daraus, dass ihm der Ansatz seines Freundes Louis Bec deutlich näher stand: Von Hause aus Biologe, hatte sich Bec in die Informatik gestürzt, um sein großes Thema, alternative, künstliche Lebensformen vorstellig zu machen, mit zeitgemäßen Mitteln – Video und Computeranimation – auszuarbeiten. Mit Louis Bec ergab sich auch Flussers einzige künstlerische Buchkooperation in Gestalt des Vampyroteuthis infernalis, zu dem Bec fünfzehn fulminante Zeichnungen beigesteuert hatte. In einem für European Photography entstandenen, unveröffentlicht gebliebenen Text, betitelt „Bec’s Sulfanograde“ und datiert mit 21/4 (vermutlich 1988 oder 1989), schreibt Flusser: „ . . . wir sind jenseits von wahr und falsch, wenn wir simulieren. Dort, in diesem Jenseits, stehn die Sulfanograde. Wer dort steht, der kann nicht mehr (muss nicht mehr) zwischen Wissenschaft und Kunst unterscheiden. Dort nämlich treffen sich beide, um einander zu überholen. Dort wird Wissenschaft zu einer der Künste: Sie macht Simulationen, die zur Erkenntnis führen sollen. Und dort wird Kunst zu einer der Wissenschaften: Sie macht ihre Simulationen auf Grund vorangegangener und in Hinblick auf künftige wissenschaftliche Erkenntnis. Eigentlich war das schon immer der Fall (die Wissenschaft hat schon immer simuliert, Hypothesen gebaut, und die Kunst hat schon immer versucht, zu erkennen). Nur standen früher die Wissenschaftler und Künstler noch diesseits von wahr und falsch, und wussten daher nicht, was sie machten. Bec weiß das. Die Sulfanograde sind simulierte Organismen. Sie beruhen auf vorangegangener biologischer Erkenntnis, und sie zielen auf künftige biologische Erkenntnis. Die Biologie ist eine der ersten Wissenschaften, welche ins Jenseits von wahr und falsch brechen: Sie beginnt, künstliche Lebewesen (vorläufig vor allem Viren und Bakterien) herzustellen. Sie ist daran, aus einer Naturwissenschaft zu einer Kunst zu werden. Die Sulfanograde kommen von der umgekehrten Richtung am gleichen Ort an: Bei ihnen ist die Kunst daran, Biologie zu werden. Aber bei ihnen ist die Simulation noch gewagter als bei den Viren: ‚was wäre‘, so fragen die Sulfanograde, ‚wenn man den Kohlenstoff in den Organismen durch Schwefel ersetzen würde?‘. Und sie sind Antworten auf diese Hypothese.“
In dieser Passage wird Flussers Hoffnung auf eine der Wissenschaft zustrebende epistemologische Kunst und eine der Kunst zustrebende ästhetische Wissenschaft und deren schließliche Verschmelzung deutlich. „Heimarbeit“ nannte er an anderer Stelle das bisherige empirische Vorgehen des Künstlers und stellte ihr „eine zweite Methode, eine viel gewaltigere Methode“ der Kreativität gegenüber: „Indem ich mir das Prinzip der Herstellung von Unwahrscheinlichem theoretisch ausarbeite, dann in Algorithmen ausdrücke, dann diese Algorithmen in eine künstliche Intelligenz hineinfüttere. Und dann diese künstliche Intelligenz mit diesen gefütterten Algorithmen beobachte, und was sie spuckt, rauswähle. . . . Wir stehen an der Schwelle einer kreativen Explosion ohnegleichen. Denn wir sind zum ersten Mal in der Geschichte theoretisch auf die Kreativität gekommen.“ („High-tech statt Heimarbeit. Vilém Flusser über Kreativität.“ Interview mit Elisabeth Quast am 21.4.1991. In: European Photography 50, Jg. 13, Nr. 2, 1992).
Zwischen 1987 und 1991 hat Flusser als Kolumnist von European Photography in einer unter dem Titel „Reflections“ für ihn eingerichteten Rubrik insgesamt neun Projekte von Fotografen analysiert. Die jeweils knappen und präzisen Kritiken zeigen eindrucksvoll, wie Flusser sich in die Arbeiten einfühlt und sie sodann zu seinen Thesen in Beziehung setzt oder als Material für neue Thesen benutzt. Dabei gibt er auch, allerdings nie destruktiv oder verletzend, Ratschläge. Dass der Einsatz von High-tech in der Kunst nicht eo ipso seinem Kreativitätskriterium genügt, erläutert er in seiner ersten „Reflektion“ über die New Yorker Künstlerin Nancy Burson: An ihren legendären synthetischen Computerporträts diskutiert er die neue „chimärische“ Denkart, die sich in zwei Tendenzen äußere, einer „telematischen“, auf Bits aufgebauten, und einer „biotechnischen“, auf Genen beruhenden. Bursons Komputationen seien insofern pädagogisch wertvoll, als sie „zeigen, was herauskommt, wenn bereits verfügbare Informationen zersetzt und neu zusammengesetzt werden (. . .) Nämlich eben nichts Neues, sondern das Alte in chimärischer Form.“ Mit anderen Worten, Burson zeigt, wie man‘s nicht machen soll: „Die neue Denkart darf sich nicht in Kalkulation und Komputation verkapseln, sondern sie muss sich für Fantasie, für das Abenteuer öffnen.“ Diese Bewertung zeigt Flussers Kompetenz für Kunstkritik; Kunstwerke sind für ihn nicht autonome, nach allein ästhetischen Regeln zu kritisierende Phänomene, sondern sie sind Träger von Ideen, decodierbaren Ideen, und als solche Erlebnismodelle, in denen sich das zeitgenössische Denken bricht – oder auch nicht. (European Photography 33)
1988 entsteht ein Text für den deutschen Fotografen Ulrich Mertens, der unter dem Titel „Drüber und Drunter“ eine Serie über Erdtunnel und die darüberliegenden Erdstandpunkte aufgenommen hat. Das gibt Flusser Gelegenheit, die Kamera als „phänomenologisches“ Werkzeug anzusprechen, dem kein bestimmter Standpunkt eigen sei, zugleich gibt er ihm auf den Weg: „Mertens hat bisher nicht versucht, aus der Begrenzung des üblichen Apparats auszubrechen (diese Bemerkung mag ihm als Hinweis für künftige Arbeiten dienen).“ Und sie diente Mertens als Hinweis für künftige Arbeiten: Seine nächste Serie handelte von der Sichtbarmachung radioaktiv strahlender Materie.
Schließlich hat Vilém Flusser die „Leute des Bildes“ nicht nur mit Werkkommentaren, Analysen und Katalogtexten bedient, sondern er ist auch als Video- und Buchrezensent in Erscheinung getreten. Ein Bild-/Textband der Fotografin Herlinde Koelbl, Jüdische Portraits, erschienen 1989 im S. Fischer Verlag, hat ihn zu einer herrlich bissigen Polemik inspiriert: „Als erste Annäherung könnte man etwa sagen: Die jüdische Frage ist interessant, berühmte Leute sind interessant, Porträtfotos sind interessant, Interviews sind interessant, wie interessant muss es erst sein, wenn berühmte Juden über die jüdische Frage Interviews geben und dazu fotografiert werden? Die Antwort ist klar: Das Resultat all dieser Interessantheiten ist ohne das geringste Interesse. Um zum Eintopfgericht zurückzukehren: Heringe schmecken gut, Schokolade schmeckt gut, wie gut muss also Hering mit Schokolade schmecken. Aber dass dieses Buch fade ist und einen faden Geschmack hinterlässt, ist nicht die richtige Antwort.” Und er kommt zu dem Schluss: „So ein Kitsch wie das vorliegende Buch macht den Dialog zwischen den Leuten in Deutschland und mir nicht leichter. Leichter wird er mir, wenn ich diesen Aufsatz schreibe. Allerdings: Es ist schwierig, in dieser Sache nicht Kitsch zu machen. […] Also zwingt vielleicht das besprochene Buch zu folgender Beichte: Man kann über Kollektives nur Kitschiges sagen, und sinnvoll ist nur das existentielle Einzelverhältnis (also Freundschaft).“ (European Photography, Nr. 44, 1990).
4. Flussers publizistisches Wirken in Europa
Mein kurzer Streifzug durch die Text- und Bildwelten, in denen Flusser seit seinem Eintreffen in Genf 1972 ein europäisches Zuhause fand, ist notgedrungen kursorisch und konzentriert sich auf sein wichtigstes Wirkungsgebiet, den deutschen Sprachraum. Hier hat er – nach derzeitigem Stand der Recherchen des Flusser-Archivs – seit 1972 insgesamt 306 Einzelbeiträge in Zeitungen, Zeitschriften, Anthologien und Katalogen publiziert. Dagegen fällt die Zahl seiner in französischer Sprache veröffentlichten Beiträge im gleichen Zeitraum mit 56 Artikeln und Interviews sowie drei kleinere Monografien erstaunlich gering aus. Zwei Übersetzungen deutscher Erstveröffentlichungen liegen bislang vor, Dinge und Undinge und die „Fotophilosophie“, letztere erschienen 1996 und damit zwei Jahre später als etwa die chinesische Übersetzung; außer einem abenteuerlichen Verriss hinterließ sie keine bemerkenswerten Spuren.
Bedenkt man, dass Vilém Flusser in Louis Bec, Fred Forst und Abraham Moles durchaus einflussreiche Freunde besaß, so ist diese Bilanz erstaunlich. In englischer Sprache sind dem Flusser-Archiv 82 Einzelbeiträge seit 1972 bekannt, von denen jedoch nur ein einziger in Großbritannien erschienen ist. 33 Beiträge erschienen in den USA, davon 21 allein in Art Forum; 31 Artikel erschienen in Deutschland, davon ebenfalls 21 allein in European Photography. Für die übrigen Ländern Europas liest sich die Statistik für die Jahre 1972 bis heute wie folgt: Tschechische Republik 13 Beiträge zuzüglich 29 Übersetzungen in dem von Miléna Slavicka herausgegebenen Flusser-Sonderband der Zeitschrift Vytvarné umeni; Ungarn 8 Beiträge; Spanien 6 Beiträge; Polen und Griechenland je 2 Beiträge, Dänemark, Italien, Niederlande und Norwegen je 1 Beitrag. Hierbei ist anzumerken, dass ein Großteil der Beiträge erst posthum, also ab 1992, erschien.
Alle weiteren Einzelheiten werden dem von Klaus Sander erarbeiteten Bibliografie-Band Flusser-Quellen zu entnehmen sein, der hoffentlich noch in diesem Jahr als Band I der Edition Flusser im Verlag European Photography wird erscheinen können. Noch einige weitere Angaben zu den Buchveröffentlichungen. Flussers erfolgreichstes Buch, die „Fotophilosophie“, liegt derzeit in 8. deutscher Auflage vor, eine 9. wird noch in diesem Jahr erscheinen. Es wurde übersetzt ins Englische (1984), Brasilianische (1985), Italienische (1987), Norwegische (1987), Schwedische (1988), Spanische (1990), Ungarische (1990), Türkische (1991 und 1994), Chinesische (1994), Tschechische (1994), Französische (1996), Griechische (1998) und Japanische (1999). Das Universum der technischen Bilder liegt in 5. deutscher Auflage vor, Die Schrift in 4. Auflage sowie einer Taschenbuchlizenz und einer Übersetzung ins Koreanische (1998), Vampyroteuthis infernalis und Die Geschichte des Teufels in jeweils 2. deutscher Auflage. Die im Bollmann-Verlag, der im vorigen Jahr seine Geschäftstätigkeit eingestellt hat, erschienenen Gesten wurden ins Spanische übersetzt und sollen laut Edith Flusser noch in diesem Jahr in französischer Sprache herauskommen, die Kommunikologie ins Japanische, Bodenlos ins Tschechische.
5. Flusser heute
Vilém Flussers Tod geschah plötzlich und unerwartet und hinterließ Ratlosigkeit bei uns, die wir ihn schmerzlich vermissten und uns vor die Frage gestellt sahen, welches Bild wir aus unseren persönlichen Erinnerungen und den unüberschaubaren geistigen Hinterlassenschaften dieses Menschen formen sollten.
Ich erinnere mich gut an das erste Treffen des „Netzwerks der Freunde Vilém Flussers“ im Dezember 1991 in Straßburg und unseren gemeinsamen Versuch, Flusser gleichsam resümierend in Worte zu fassen: den Prager Kosmopoliten mit jüdischer Gelehrsamkeit, den transdisziplinären Universalisten; den Antiideologen und Akkumulator von Standpunkten; den Philosophiefiktionär; den Dialogiker; den luziden, deutlichen, distinkten Denker; den Verabscheuer jedweden Jargons; den Schriftsteller und Künstler; den antiapparatischen Verfechter der Freiheit und Feind der Systeme; den Spieler, den Ironiker und Selbstironiker; den gutmütigen, liebevollen, zornigen Mitstreiter und Freund . . . Flusser lebt in uns auf unsere eigene Weise fort, und nur jeder einzelne von uns kann seine eigene Antwort auf Flusser finden. Erste zahlreiche solcher Antworten finden wir in den Nachrufen und Erinnerungen, die Florian Rötzer 1992 für die Zeitschrift Kunstforum versammelt hat (Nr. 117).
Aus drei aktuellen, für diesen Beitrag verfaßten Antworten auf die Frage „Worin liegt für Sie Vilém Flussers hauptsächlicher Beitrag zur Kultur- und Medienphilosophie?“ möchte ich abschließend zitieren. Ingeborg Zepf, Professorin für Kunst und Kunsttheorie an der Universität Köln, schreibt: „Aus seiner emanzipatorischen, jüdischen Denkweise sieht Flusser den einzigen Ort der Begegnung mit dem Heiligen im Gegenüber des anderen Menschen, ein Ort, der sich dem Wissbaren, Verfügbaren, Beherrschbaren und Manipulierbaren entzieht. Flusser gibt auf diese Weise in seinen Schriften Hinweise, Anregungen, Vorschläge für ein Antiprogramm zu dem in die Katastrophe geführten Programm des Westens im 20. Jahrhundert.“
Felix Philipp Ingold, Schriftsteller und Übersetzer in Zürich: „Obwohl sich Flusser, soweit ich weiß, nie um die Grundlegung einer allgemeinen Ästhetik bemüht und für künstlerische Dinge kein explizites Interesse gezeigt hat [eine Sicht, die ich zu korrigieren versucht habe, AMP], bin ich davon überzeugt (und werde dies demnächst auch in einer eigenen Arbeit aufzuzeigen versuchen), daß in seinem Werk zahlreiche kunstphilosophische Ansätze auszumachen, freizulegen, zu entfalten sind, die für eine Theorie der künstlerischen, insbesondere der sprachkünstlerischen Kreativität nutzbar zu machen wären. In der Philosophie der Photographie sind dies vor allem Flussers Beschreibungen und Analysen der photographischen Gesten, seine Funktionsbestimmung des Photoapparats sowie des Photographen als eines Funktionators. Wenn Flusser in der photographischen Geste eine funktionale Verschmelzung von Photograph und Photoapparat feststellt, so ließe sich für die Geste des (dichterischen) Schreibens sagen, sie sei eine Geste, bei der der Dichter und die Sprache zu einer unteilbaren Funktion zusammenfließen. Oder: Der Dichter beherrscht die Sprache ebenso, wie der Photograph seinen Apparat beherrscht, und zwar insofern, als er die Realitätsbezüge bzw. Bedeutungssphären der Sprache kontrolliert, und er wird (wie der Photograph von seinem Apparat) gleichzeitig von der Sprache beherrscht dank der Opazität ihres Innern. Anders gesagt: Funktionäre – ob Photographen oder Dichter – beherrschen ein Spiel, für das sie nicht kompetent sein können. Und nochmals anders: Nicht die Welt dort draußen ist wirklich, und auch nicht der Begriff hier drinnen im konventionellen Gebrauchs- oder Bedeutungsfeld der Sprache, sondern wirklich ist immer erst das sprachliche Kunstwerk als solches. Beim Gedicht wie bei der Photographie wird der Bedeutungsvektor umgekehrt: nicht das Bedeutete (die Information), vielmehr das Bedeutende (das Symbolische) ist das Wirkliche. Dem wäre nachzugehen, und darauf hin wären Flussers Texte kritisch zu befragen.“
Und schließlich Siegfried Zielinski, Direktor der Kunsthochschule für Medien in Köln, die seit dem 15. Oktober 1998 das Flusser-Archiv beherbergt: „Das Werk Vilém Flussers ist von einer enormen Mannigfaltigkeit. Diese Heterogenität ist zugleich eine seiner wesentlichen Qualitäten. Sie hat auch zur Folge, daß die gestellte Frage in aller Kürze nur radikal persönlich zu beantworten ist: Vilém Flusser hat Mut gemacht, sich mit dem Anderen, auch dem, was wir auf Anhieb nicht verstehen, radikal auseinanderzusetzen. Dazu gehört auch das Andere der Maschinen. Seine Texte sind eine Aufforderung zum eingreifenden Denken. Sie machen Hoffnung, daß es doch Möglichkeiten der Verbindung gibt zwischen dem Berechenbaren und dem Maßlosen, zwischen dem Logischen und dem Rätselhaften. Verbunden mit seiner kompromißlosen Ablehnung hierarchischen, autoritativen Denkens macht dies sein Werk insbesondere auch für Künstler, die mit avancierten Maschinen und Programmen arbeiten, so wertvoll.“
Dem möchte ich nachhaltig zustimmen. Hat sich die Flusser-Rezeption des zurückliegenden Jahrzehnts vor allem dem textphilosophischen Denken zugewandt, so steht die Würdigung und Untersuchung seines bildphilosophischen Beitrages noch weitgehend aus. „Philosophieren in Bildern“ war ein Projekt, das Vilém Flusser und ich mal für eine Ausstellung ins Auge gefaßt hatten. Eines unter so vielen anderen.
Unveröffentlichter Vortragstext für das Symposium „Vilém Flusser no Brasil: uma apresentação“, 12.–13. April 1999 im Goethe-Institut São Paulo, organisiert von Gustavo Bernardo und Ricardo Mendes. Mit 70 Dias als Illustrationen.
© 1999/2005 Andreas Müller-Pohle