Auf der Suche nach Bedeutung
Die folgende Autobiografie Vilém Flussers entstand während der Monate Oktober und November 1969 in São Paulo. Sie erschien 1976 in der Reihe „Tendenzen der aktuellen Philosophie in Brasilien in Selbstbildnissen“ (Nr. 27) im Verlag Edições Loyola.
I. „Curriculum Vitae“
Ich bin am 12. Mai 1920 in Prag geboren. Ich studierte auf der Karlsuniversität in Prag und an der London School of Economics in London. Ich bin Gastprofessor an der Polytechnischen Schule der Universität São Paulo (USP) für die Philosophie der Wissenschaft und bin Inhaber des Lehrstuhls für die Theorie der Kommunikation und Kunstkommunikation an der Fakultät für Kommunikation und Geisteswissenschaften (Kunstfakultät Alvares Penteado, FAAP). Als Mitglied des brasilianischen Instituts für Philosophie bin ich Direktor für Vorträge und Seminare des Instituts. Ich bin Mitarbeiter an zahlreichen nationalen und ausländischen Publikationen, insbesondere beim Estado de São Paulo, bei der Brasilianischen Zeitschrift für Philosophie und bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Ich habe Brasilien bei verschiedenen Gelegenheiten im Ausland und bei Wettbewerben vertreten.
II. Entstehung meines Denkens
Ich muß gleich zu Anfang gestehen, daß die Herausforderung einer Selbstkritik wie diese hier ambivalent ist. Ihr Motiv ist die Eitelkeit des Exhibitionismus, weil diese Arbeit ja veröffentlicht wird. Wer kennt die Verführung nicht, über sich selbst vor einem großen Publikum zu sprechen? Es ist gleichzeitig eine Aufforderung, ehrlich auf die Gewissensfrage, wer ich bin und was ich mache, zu antworten. Und wer kennt die Gefahr nicht, sich selbst ins Auge zu sehen? Ich nehme die Aufforderung an, von Eitelkeit wie von Ehrlichkeit bewegt.
Leben ist, sich selbst anzunehmen, um sich zu ändern. Wer sich nicht annimmt, lebt sein eigenes Leben nicht, sondern nur das „Leben der Leute“. Wer sich annimmt und akzeptiert, ohne zumindest versucht zu haben, sich zu ändern, lebt nicht tätig, sondern funktioniert nur in Funktion seiner Bedingung. Denn der Versuch, sich selbst zu ändern, enthält den Versuch, die Situation, in der ich mich befinde, zu ändern. Kurz, Leben ist zu entdecken, wer ich bin und von da aus zu versuchen, mich zu verbessern (und mehr) und ebenso die Welt. Tatsächlich erneuert sich jeden Augenblick die Aufgabe, was das Leben ist. Die Frage „wer bin ich?“ ist jedes Mal, wenn ich sie stelle, neu, und die Entscheidung, von der Antwort erneut auszugehen, ist jedes Mal schmerzlich und radikal. Ich werde also die Frage „wer bin ich?“ so formulieren, als ob es das erste Mal wäre, um mich (vielleicht?) entscheiden zu können.
Ich bin der Sohn Prager Juden, wohlhabender und intellektueller Bürger; meine Kindheit und Jugend erlebte ich in der geistig und künstlerisch berauschenden Atmosphäre Prags, zwischen den zwei Kriegen. Ich überlebte betäubt das bestialische und blöde „Erdbeben“ des Nazismus (das meine Welt verschlang und zwar nicht nur meine Anderen und meine Dinge, sondern auch meine Wertmaßstäbe, die meine Welt strukturiert hatten). Von den Furien der Ereignisse wurde ich nach Brasilien geschleudert – wo es eine modellierbare, sehr amorphe, eine in jeder Hinsicht, auch im ontischen Sinne, hungrige und durstige Situation gibt. Ich wurde in einem noch modellierbaren und anpassungsfähigen Alter nach Brasilien geschleudert, so daß ich die letzten dreißig Jahre auf der Suche nach mir selbst in Brasilien und auf der Suche nach Brasilien in mir selbst verbracht habe. Wenn Leben heißt, sich zu orientieren, lebte ich intensiv, daß heißt philosophisch. Wenn aber Leben heißt, orientiert zu sein, habe ich es noch nicht begonnen, habe mich noch nicht engagiert. Ich war mein Leben lang verfügbar und bin es noch. Ist dies ein Geständnis des Versagens? Ein Geständnis des Scheiterns? Ein Geständnis, daß ich mich in Brasilien nicht gefunden habe, daß ich Brasilien in mir nicht gefunden habe, so daß ich mich infolgedessen gar nicht annehmen konnte? Was bedeutet „Brasilien“ in diesem Kontext? Es bedeutet den Umstand, in den ich geschleudert wurde. Wenn ich mich in Brasilien nicht gefunden habe und Brasilien nicht in mir, bedeutet es, daß ich den Boden meines In-der-Welt-Seins nicht gefunden habe. Auf diese Weise formuliert, erhält mein Scheitern eine religiöse Qualität. Mein Leben war ein Leben ohne Religion, in Suche nach Religion; ist das nicht eine Definition der Philosophie, zumindest einer Art von Philosophie? Ich bin ein Scheitern, weil ich die Philosophie lebe, was das gleiche ist, wie, daß die Philosophie mein Leben ist. Dies scheint mir die erste Annäherung der Antwort auf die Frage, welche das Thema dieses gequälten Gedankenganges ist: „Wer bin ich?“
Als ich hergeschleudert wurde, ist zweifellos nicht alles in mir, ganz Prag, zerstört worden. Nur radikal in Frage gestellt worden. Meine deutsche Kultur hielt trotz einer neuen Färbung an: wer im Kern meines „Ich“ wohnte, war mein Feind. Auch meine tschechische Kultur hielt an, aber so, als ob sie durch das Zerreißen der Nabelschnur, die mich mit ihr verband, zum Ersticken verurteilt wäre. Meine jüdische Tradition (um damit anzufangen, schwach und blutarm, denn von jüdischer Kultur habe ich kaum etwas) erhielt eine viel größere Bedeutung als früher, wobei sie gleichzeitig schweren Prüfungen ausgesetzt war, denen sie fast nicht widerstand. In den brasilianischen Juden, die zum großen Teil aus Osteuropa, das mir total fremd ist, stammten, erkannte ich mich nicht. Die Aufrufe des Zionismus, die noch von den Leiden der Meinigen in Europa und von der Schönheit der sozialen Experimente und des Heroismus in Palästina bestärkt wurden, berührten mich nicht genügend, um mich dazu zu bringen, mich zu engagieren. Sie waren von den Rufen meiner brasilianischen Bedingungen bedroht. Was die Rufe der jüdischen Religion betrifft, darüber werde ich wenig später sprechen. Was aber hauptsächlich anhielt, war meine philosophische Bildung, obwohl auch sie in eine Krise geriet.
So wie die meisten, die mit mir den gleichen kulturellen und geschichtlichen „background“ teilen, habe ich eine solide marxistische Basis. Es muß allerdings gesagt werden, daß es dabei nicht um genau den gleichen Marxismus geht wie bei meinen brasilianischen Zeitgenossen. Er ist einerseits intensiver erlebt, in dem Sinne, daß er in engerem Kontakt mit den tatsächlichen marxistischen Bewegungen stand (mein Vater war Mitglied der sozialistischen Partei) und zudem antifaschistisch war. Andererseits ist er weniger stark erlebt und eher salonmäßig, weil er sich in einer bürgerlichen Umgebung abspielte. Das erklärt vielleicht, warum mein Marxismus als Engagement weder die Moskauer Prozesse überlebte, noch die kommunistisch-nazistische Verbindung in Deutschland und die Allianz Deutschland-Rußland in den ersten Kriegsjahren, jedoch als Utopie und anthropologisches Modell hartnäckig im Inneren meiner Gedanken weiter besteht. Ein echter Marxist wird infolgedessen, mit seiner Behauptung Recht haben, daß ich nie wirklich Marxist war. Aber Recht wird auch derjenige haben, welcher die überzeugende Macht und die innere Schönheit des Marxismus nicht kennt, wenn er behauptet, daß ich immer Marxist war und es noch bin. Eine Verdeutlichung der Schwierigkeit sich anzunehmen: ich stimme beiden Argumenten zu.
Doch sehr bald erlitt ich einen zweiten Einfluß, vielleicht einen weniger lebenswichtigen, doch intellektuell viel solideren: die Prager Schule, den Wiener Kreis und vor allem Wittgenstein. Damals wußte ich es nicht, doch heute ist es mir klar, daß die Anziehungskraft des Formalismus (der heute in seiner reiferen Phase „Strukturalismus“ genannt wird) nicht hauptsächlich in der Schönheit seiner Strenge und im Bruch mit dem Historizismus liegt, sondern in dem ihm innewohnenden Mystizismus. In Wittgenstein kommt dies mit aller Deutlichkeit zum Vorschein, denn die intellektuelle Strenge durchquert hier eben diese Bewegung in das Unsagbare. In der Zeit der falschen, brüllenden und heulenden Mystizismen, der pseudoromantischen Posen, der Pseudogriechen und Pseudogermanen (uniformiert oder nicht), welche die Luft zwischen den zwei Kriegen verpesteten, war der Weg in Richtung des Unsagbaren, der von der Analyse (besonders der linguistischen) geöffnet wurde, wie ein Hauch echter Religiosität; ohne mir dieses Aspektes ganz bewußt zu sein, klammerte ich mich an ihn. Ich versuchte, diesen transzendentalen Formalismus mit der marxistischen Dialektik irgendwie in mir zu synthetisieren (etwas, daß den heutigen Meta-Marxisten scheinbar gelingt), doch glaube ich nicht, daß meine Bemühung geglückt ist. Einen dritten Einfluß, den ich in der Zeit meiner Bildung in Prag erlitt, war das Buch „Aufstand der Massen“ von Ortega. Über den Weg Ortegas entdeckte ich jene weite Welt, vage Existentialismus genannt, welcher so lange Zeit alle meine Gedanken (manchmal auch meine Taten) kennzeichnete. Wegen Ortega habe ich wieder Nietzsche gelesen, der mich früher nur durch die Schönheit seiner Sprache gefesselt hatte. Jetzt, indem ich das Heranziehen der steigenden Flut blasser Vulgarität spürte, glaubte ich mich in Nietzsche erkannt zu haben. Ich glaube, daß mich die Begegnung mit ihm für immer gezeichnet hat und dazu geführt hat, daß ich mich nach Schiffbruch und Verbannung nicht in der Banalität aufgelöst habe.
Natürlich habe ich in Prag viele andere Autoren gelesen. Doch lesen bedeutet nicht zugleich existentiell zu assimilieren. Die Entstehung meines Denkens muß auf den drei genannten, verschiedenartigen Koordinaten liegen.
III. Entwicklung meines Denkens
Während des Zweiten Weltkrieges, im Hintergrund die Vernichtungslager und als Umgebung eine fremde Gesellschaft, verfiel ich der Einsamkeit des Mystizismus (für mich schon im Tractatus und bei Nietzsche vorausgesehen). Ich interessierte mich für das orientalische Denken, für Johann vom Kreuz, für Ekkehart; ich las immer wieder Angelus Silesius, entdeckte von neuem die deutsche Romantik, Dostojewski. Ich befaßte mich mit Buber und mit der protestantischen Existentialtheologie, ich entdeckte Jaspers. Die ersten Schriften Heideggers trafen mich zutiefst, provozierten in mir Enthusiasmus und Haß in einer fast unerträglichen Spannung. Ich begann in dieser Zeit, in Verzweiflung, zum ersten Mal den Ruf des Katholizismus, als Versprechung von Rettung und Trost, zu empfinden. Doch wußte ich immer, in einem Winkel meines Seins (im marxistischen, vielleicht), daß es nichts als Entfremdung und Flucht war. Daß ich den Intellekt verriet und nicht opferte.
Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Einbruch des Kommunismus in Prag (was für mich eine totale Unmöglichkeit der Rückkehr bedeutete, teils aus Egoismus und Bequemlichkeit, teils aber auch aus würdigeren Überlegungen), habe ich begonnen, mich immer mehr dem brasilianischen Milieu zu öffnen. Mein erster Kontakt mit brasilianischen Dingen auf einem ernsteren Niveau war ein Schock. Der Mystizismus, dem ich begegnete, schien eine Karikatur meines eigenen zu sein, meine Ängste bestärkend. Die verschiedenen Formen der Macumba und des Spiritismus, die unverantwortliche Großrednerei, Einstellungen aus dritter Hand, dienten mir als Spiegel. Einen Augenblick lang starb ich. Zugleich beleuchtete die brasilianische Situation karrikierend die Kehrseite der Medaille: die Sterilität des Formalismus. Die Positivismen, Marxismen, Scholastiken, Akademismen und formalen Präzisionismen „à la brasileira“, die die 40er und den Anfang der 50er Jahre charakterisierten, waren für mich nicht nur lächerlich, sondern eine Warnung vor einer Gefahr. Als Symptom dafür nahm ich das überflüssige Interesse der brasilianischen Intellektuellen an der Grammatik der portugiesischen Sprache (ohne Beziehung zur Wiener Schule), an der Geschichte des brasilianischen Imperiums, an der minutiösen Analyse der Texte von Farias Brito. Anbetung von Flöhen. Zwischen der Scylla des Geschwätzes und der Charybdis falscher Gelehrsamkeit – in beiden erkannte ich eine Karikatur meiner selbst – geriet ich in eine dieses Mal eher interne als externe Krise. Jahrelang habe ich den Selbstmord in Betracht gezogen, und nur mit dieser immer gegenwärtigen Möglichkeit gelang es mir zu überleben. Ich verschlang Kafka, Camus und die absurde Kunst. Zu dieser Zeit lernte ich unter großen Schmerzen, daß man den Glauben nicht erzwingen kann, und daß, wenn Gott gestorben war, er endgültig gestorben ist. Ich lief in meiner Verzweiflung wieder zu Nietzsche, zu den Vorsokratikern, ich lehnte angeekelt alles ab, was nicht westlich war, und begann, den späten Husserl zu verstehen, die radikale Phänomenologie. Damals schrieb ich mein erstes Buch: „Die Geschichte des Teufels“. Ich schrieb es auf Deutsch, da ich noch kein Vertrauen in mein Portugiesisch hatte.
Meine Rettung war Kant, meine „Katharsis“ in allen Krisen. Hier ist nicht der Ort, um ein Loblied auf seine kristalline Würde zu singen. Ich habe Cassirer, Cohen, Hartmann, die ganze Marburger Schule gelesen. Der Umkreis meines Denkens begann sich abzuzeichnen; das zentrale Problem sollte die Sprache werden. Vor allem, natürlich, weil ich die Sprache liebe. Ich liebe ihre Schönheit, ihren Reichtum, ihr Geheimnis und ihren Charme. Ich bin nur wirklich, wenn ich spreche, schreibe, lese, oder wenn sie in mir flüstert um ausgesprochen zu werden. Aber auch, weil sie symbolische Form ist, Wohnort des Seins, welcher verhüllt und enthüllt, Weg, der mich mit anderen verbindet, Feld der Unsterblichkeit „aere perennius“, Material und Instrument der Kunst. Die Sprache ist mein Repertoire und meine Struktur, mein Spiel, Modell aller meiner Modelle, sie ist offen und öffnet mich dem Nichtgesagten. Sie ist mein Engagement, in ihr realisiere ich mich, und durch sie gleite ich in Richtung ihres Horizonts und ihres Fundaments, zur Stille des Unsagbaren. Sie ist meine Form der Religiosität. Und – vielleicht – auch die Form, durch die ich mich verliere.
IV. Erste produktive Phase
Ich begann systematisch über Sprache zu lesen. Teilweise, um den in Prag verlorenen Kontakt wieder aufzunehmen (die Wiener, Russell und immer von neuem Wittgenstein) und teilweise als Weiterentwicklung von Themen der 30er Jahre (die Amerikaner, die auf den Wienern fußen). Zum Teil auch in einem neuen Licht, infolge meiner Lektüre Heideggers („Unterwegs zur Sprache“). Aber ich entdeckte auch mir unbekannte Aspekte, besonders französische. (Mein geringer Kontakt mit der französischen Kultur, ist eine meiner bedauernswürdigen Schwächen.) Saussure hinterließ in mir keine Spuren.
Mein Begriff des Wortes „Sprache“ erforderte eine viel variiertere Lektüre. Mein Interesse begann, sich zu verzweigen. Ich habe Linguisten gelesen, Philologen, Psychologen, Biologen, ich habe mich bemüht, ein wenig in die Logische Symbolik und die Mathematik einzudringen, habe mutig gekämpft, kein Opfer der Ethymologie zu werden. (Nie konnte ich mir die Anziehung, die die Ethymologie nicht nur auf mich, sondern auf viele andere ausübte, erklären.) Selbstverständlich stellte diese formale Lektüre kaum das Arsenal des Angriffs auf das Problem „Sprache“ dar. Das Problem selbst liegt anderswo und zwar in der Kunst. Ich habe die großen Meister der Sprache entdeckt oder neu entdeckt: Joyce, Pound, Eliot, die „Maudits“, Morgenstern (ein unerschöpfliches Vergnügen). Und ich kehrte zu den Alten zurück. Goethe begleitete mich immer, vielleicht weil er all das ist, was ich nicht sein kann, doch zu dieser Zeit wurde er die Brücke zu Thomas Mann, der mich tief beeindruckte. „Joseph und seine Brüder“ und „Doktor Faustus“, die beiden großen Siege der sich selbst bewußt gewordenen deutschen Sprache, die zwei großen Feste des Geistes wurden zu zwei unerschöpflichen Brunnen meines Durstes nach der Sprache. Hermann Hesse machte einen viel geringeren Eindruck auf mich. Ich sympathisiere weder mit seiner Sprache, die zum „Kitsch“ neigt, noch mit seinem Orientalismus. Selbstverständlich war mir der „Steppenwolf“ nicht gleichgültig, allein schon deshalb, weil ich teilweise mich und viel mehr noch einen intimen Freund von mir, Partner meiner Nachforschungen, in ihm erkannte. Das „Glasperlenspiel“ hatte einen verspäteten Effekt auf mich. Ich erkenne diesen Effekt jetzt viel besser als zur Zeit meiner ersten Lektüre, weil ich Hesse auf dem Grund meiner Überlegungen zum Spiel und zur Übersetzung, wenn es um „Sinngebung“ geht, wiederfinde. Doch muß ich einen kleinen Absatz den zwei größten Einflüssen in dieser Zeit widmen: Kafka und Rilke.
In einem bestimmten Sinn sind sie Gegensätze; in einem anderen Sinn sind sie unzertrennbare Brüder. Sie sind auf dem Niveau der Sprache Gegensätze: Kafka, ihr Asket, und Rilke, ihr Orgiast. Kafka (wie Wittgenstein), der unbarmherzige Enthüller der Pose und der Falschheit der Sprache – mit der Absicht, den Weg der heiligen Reinheit der fundamentalen Stille der Sprache freizulegen –, und Rilke (wie Heidegger), der enthüllende Prophet des Mysteriums, das in ihr wohnt. Zwei entgegengesetzte Schönheiten, die eine läuternd, die andere berauschend. Und indessen sind sie im Grunde die gleiche Schönheit, das heißt, die der Poesie als dem Unsagbaren. Die beiden Prager reisen in zwei verschiedenen Fahrzeugen dem gleichen Ziel entgegen, das auch das meine ist. Ich beuge mich vor den zwei Riesen, die als Ganzes meine Modelle sind. Diesem Modell folgend, tauchte ich spontan in den Ozean der Musik ein, in die Welt der Schallplatten. Aus unerklärlichen Gründen nahm mich Mozart gefangen. Ich fühlte in ihm die fast übermenschliche Perfektion im Versuch, die menschliche Verzweiflung zu überwinden. Dieses mein Eintauchen in die Musik führte mich zu Schopenhauer zurück, derart gegenmozartisch, und dadurch auch zur Sprache als Musik und zur Musik als Sprache. „Was er sagte ist vertan, was er war, das bleibt bestahn. Seht ihn nur an! Niemand war er Untertan.“ (Nietzsche) [Hier im deutschen Original zitiert; Anm. d. Red.]
Dies alles versuchte ich in meinem Buch „Lingua e Realidade“ zu schreiben.
V. Zweite produktive Phase
Die Veröffentlichung dieses Buches beim Herder Verlag war meine wirkliche Öffnung den brasilianischen Dingen gegenüber. Und Brasilien öffnete sich mir durch zwei kolossal große Fenster: Guimaraes Rosa und Vicente Ferreira da Silva. Meine zwei großen brasilianischen Meister und (wage ich es zu sagen?) Freunde starben. Was bedeutet das? Ich habe von Husserl gelernt, daß Leben nicht entdecken ist, sondern Sinngeben.
Es kann indessen kein bloßer Zufall sein, daß ich in Guimaraes Rosa mein ganzes sprachliches Engagement auf grandiosem Niveau wiedererkannte. „Sagarana“ und „Corpo de Baile“ und, insbesondere, „Grande Sertao: Veredas“ sind wie Hinweise in fieri auf meine Thesen in „Lingua e Realidade“. Der sporadischer Dialog, den ich mit Guimaraes Rosa bis zu seinem Tode aufrecht hielt, spielte sich wie im Traum ab. Ich mußte mich zwicken, um zu wissen, daß Guimaraes Rosa keine Einbildung meiner Phantasie war, und daß er in einer anderen Wirklichkeit existierte als Riobaldo [Roman-Figur aus „Grande Sertao: Veredas“ von G. Rosa; Anm. d. Red.]. Die sprachliche Religiosität Rosas, sein Fanatismus beim Sprechen und beim Schreiben, seine spielerische Attitude, Vokale und Worte zu manipulieren, seine Ironie und sein Humor (siehe „Primeiras Estórias“, in der Hoffnung auf sie einen mehr als oberflächlichen Einfluß gehabt zu haben), mit eiserner Disziplin verbunden, sind als Ganzes das Bild, das ich mir von einem echten Dichter gemacht habe. Guimaraes Rosa existierte unterdessen in Fleisch und Blut! Ich werde nicht mehr von ihm sagen, als daß er für mich von einer Offenbarung zum Gebot wurde.
Es ist ein Alptraum zu wissen, daß Vicente Ferreira da Silva in meiner unmittelbaren Nähe wohnte, während der schrecklichen Kriegszeit und den Jahren der Qual, die ihr folgten, ohne daß ich ihm begegnete. Hätte ich Vicente 1940 gekannt, mein ganzer Weg wäre ein anderer gewesen. Hätte er mich gekannt – das glaube ich von ganzem Herzen – hätte er sich und die brasilianische Kultur zumindest ein wenig geändert. Das große Mißverständnis Vicentes, daß er seine ganze Schönheit und Würde auf die kleinbürgerliche eklige Unwürde rasender europäischer Faschisten projizierte, wäre verhütet worden. Aber das Spiel, Schicksal genannt, wollte, daß unser Kontakt sehr spät, in letzter Stunde, zustande käme. Für mich war es die Entdeckung eines alter ego, wenn auch sicherlich eines größeren. Ein Spiegel jedoch, in dem die gleichen Bestandteile eine ganz andere Struktur ergaben.
Der gleiche Wittgenstein und Heidegger, Rilke und Kafka, der gleiche Durst und die gleiche Suche. Doch alles anders. Ich habe mit allem aufgehört. Ich begann, mit ihm fast täglich zu kämpfen. Mit ihm und mit seinen Schriften. Mit seiner Sicht auf das Christentum. Mit Fichte und Hegel, die er in mir provozierte und mir gab. Mit meinem dritten Nietzsche, dem seinen. Mit der deutschen Romantik, jetzt nicht von innen gesehen (das war meine Sicht), sondern von außen (das war seine Sicht). Ich lernte, änderte mich in schwer beschreibbarer Form, ich öffnete mich ihm. Zugleich spürte ich eine Barriere, aus tragischen Mißverständnissen gewoben – alle, meiner Ansicht nach, von ihm ausgegangen. Ich habe versucht, sie zu durchbrechen und es begann mir zu gelingen. Der Tod kam dazwischen. Doch fordert Vicente mich immer noch heraus, in allem, was ich tue.
Unter dem starken Eindruck seiner Gegenwart und Abwesenheit, schrieb ich eine Reihe von Artikeln und Essays, zum Teil unter dem Titel „Da Religiosidade“, von der Comissao Estadual de Cultura, Sao Paulo, veröffentlicht.
VI. Dritte produktive Phase
Ich habe auf Portugiesisch die „História do Diabo“, veröffentlicht bei der Editora Martins, als Antwort auf Guimaraes Rosa und Vicente Ferreira da Silva umgeschrieben, ohne ein Echo zu erhalten. Ich begann von der sogenannten „Linken“, meiner Meinung nach irrtümlich so genannt, angegriffen zu werden. Als Kompensation begann ich einen nicht unbedeutenden Einfluß auf einen bestimmten Teil der brasilianischen Kultur, besonders auf die paulistische Jugend, zu nehmen. Ich habe unzählige Vorträge und Seminare gehalten.
Zur selben Zeit wurde mir bewußt, daß mein Problem – die Sprache – auf der Höhe, auf der ich mich befand, viel zu weit war, um in toto angegriffen werden zu können. Ich mußte mich disziplinieren, mir einen Zaum auferlegen. Ich kehrte zur Logik zurück, zu den Aspekten des Wiener Kreises, die ich unterdrückt hatte: zu Quine, Tchomski und zur Epistemologie. Während einiger Zeit nahm die Philosophie der Wissenschaft einen großen Teil meines Horizonts in Anspruch. Zum Teil sicherlich dank Vicente, mit seiner apokalyptischen Sicht auf die Technologie. Auch zum Teil als „Katharsis“. Immer wieder wandte ich mich Kant zu. Die Wissenschaft als Sprache; wie ist Kant in diesem Kontext zu vermeiden? Diese Art von Gedanken brachten mich mit Leonidas Hegenberg in Verbindung, der mir nicht nur Logik beibrachte, sondern mehr noch, die Tugend, sich im Zaum zu halten. Und die Tugend des Intellekts, der sich nicht als allmächtig beurteilt, sondern der dem Überintellektuellen einen zugleich entfernten doch allgegenwärtigen Horizont zu überlassen weiß.
Das war, als ich „A Filosofia da Linguagem“ geschrieben habe, veröffentlicht von der ITA, Sao José dos Campos, und meinen Essay „Da dúvida“, für mich eine entscheidende Stufe auf meinem zukünftigen Weg.
Endlich lernte ich Milton Vargas kennen. Ich glaube, daß Freundschaft das Resultat eines Spiels zwischen Affinität und Streit ist. Sein unruhiger Geist, seine breite Kultur, sein Vergnügen, ganz unhaltbare und von ihm nicht unterstützte Standpunkte vehement zu verteidigen, und seine tiefe Wahrhaftigkeit sind konstante Peitschenhiebe, die mich treiben. Sollte ich ein Prophet sein: Man wird noch viel von ihm in der brasilianischen Kulturgeschichte sprechen. Eines ist sicher: Ich würde ohne ihn nicht das machen, was ich mache.
Zum Beispiel: Ich bezweifle, daß ohne ihn mein Interesse an der Kommunikationstheorie erweckt worden wäre. Es wurde geweckt und begann, mich zu absorbieren. Es öffnete einen ganz neuen Zugang zum Problem der Sprache. Ich begann, alles von neuem zu lernen. Nicht nur die französische und italienische Literatur, nicht nur Bense. Ich begann, schon Gelesenes wieder zu lesen und mit der konkreten Poesie in Kontakt zu treten. Sicherlich war ein Beweggrund meines Interesses Guimaraes Rosa. Doch ein anderer, ebenso gewaltiger, war die seltsame Verbindung zwischen Wissenschaft und Religion, die Milton Vargas ist.
Obwohl von einem neuen Interessensgebiet absorbiert, kann ich nicht sagen, daß ich darin zufrieden bin. Ich war Fremder auf dem Wüstenboden der Formeln, der Komputationen und des übermäßig Vernünftigen. Ich bewunderte sie, doch ich empfand auch einen fundamentalen Gegensatz zu den Ingenieuren der Dichtung, wie Haroldo de Campos. Ich habe mich verloren. Um mich wiederzufinden, habe ich „At‚ a Terceira e Quarta Geraçao“ geschrieben, von Foucault beeinflußt, doch noch und noch immer auf den Fäden der Sprache, die Maschen des Ausweg zur Nicht-Sprache suchend. Das Manuskript ist in den Händen von Miguel Reale. Dies ist bezeichnend: in den Händen von jemand, der für mich in unglaublich bewundernswerter Form geistige Beweglichkeit mit Entscheidungskraft vereinigt. Ich verdanke ihm viel: einen großen Teil meiner Integration im Gewebe der brasilianischen Kultur und eine neue Sicht der Ethik, obwohl ich sie meinem Denken noch nicht einverleiben konnte. Wie ist es möglich, Werte zu haben, ohne Religiosität? Reale hat sie, und das ist mir unverständlich. Ich glaube, daß Reale mehr an meiner Zukunft teilnimmt, als an meiner Gegenwart.
Ich habe in dieser Phase weiter viel geschrieben. Ich habe neben den Veröffentlichungen Vorlesungen und Seminare gehalten. Trotz allem, wenn ich auf diese Phase zurückblicke, bin ich nicht zufrieden.
VII. Aktuelle Phase
Die Kommunikationstheorie schließt die Theorie der Entscheidung und der Spiele ein. Sie schließt die Kunst ein, in einem neuen Sinn. Als ich das entdeckte, war mir, als ob ich Barrieren durchbrochen hätte. Plötzlich sah ich ein neues, unüberblickbares Arbeitsgebiet vor mir ausgebreitet. Das Gebiet der Kritik als Übersetzung von Spielen. Das Feld der Freiheit. Tatsächlich: Kritik als Transzendenz der Spiele, infolgedessen als Meta-Sprache. Als ob die losen Figuren meiner früheren Phasen durch diese Formulierung des Problems eine Struktur gefunden hätten, in der sie mit Disziplin und Phantasie in Zukunft ein Ganzes bilden könnten.
Was ist Religiosität anderes, als die Möglichkeit zu wissen, daß ich spiele? Die Motivation der Kritik ist Religiosität. Mir vollkommen bewußt, was ich tat, führte mich dies zur Kritik als Übersetzung und als Philosophie. „Kritik“ – immer noch – im Sinne Kants, doch auch im ethymologischen Sinn von „kriein“, „kriterion“, „krisis“. Ich begann meinen Umstand zu verstehen und ihn als Summe von Spielen zu erleben – festgelegt und zwecklos, Enthüllung und Verhüllung des Nicht-Festgelegten und Nicht-Spielbaren. Als Wege, die sich kreuzen und wieder kreuzen, flüchtige und umkehrbare Hierarchien bildend, als Systeme, die nicht nur aufeinander, sondern auch nach außen weisen. Kurz, als Sprachen, die nicht nur sprechen, sondern auch sagen – was Eco die „estrutura ausente“ nennt.
Die Verhältnisse als Summe von Spielen und sich selbst als Spieler anzusehen, heißt, ästhetisch zu schauen. Doch ist es keine Kierkegaardsche Ästhetik, weil sie sowohl Zwecklosigkeit und Absurdität wie auch Bedeutsamkeit enthüllt. Und es genügt nicht, es zu sehen, man muß es leben. Leben, daß Kunst besser als Wahrheit ist. Leben, daß die Theorie der Übersetzung Epistemologie ist. Leben – Camus wußte es – wie ein Schauspieler, der ein Übersetzer ist, und dies auch weiß. Leben, mit anderen Worten, daß alles Kunst ist, alles Sprache, das oberste Spiel inbegriffen: ars moriendi. Und Leben bis zum Äußersten, was heißt: zwischen Spielen zu übersetzen, das Spiel des Todes inbegriffen. Hier erscheint von neuem und überraschend der Ritus als Repertoire des Todesspiels. Es ist der Ruf des Judentums als Religion und Religiosität. Doch ein viel zu endgültiger Ruf, als daß ihm in dieser Stunde der berauschenden Entdeckung der Spiele gefolgt werden könnte.
Ich stürzte mich in die Spiele. Im Sinne des „Magister Ludi“ von Hermann Hesse. Der „Homo Ludens“ wurde mir ein Synonym für den neuen Menschen bei Marx, für den Übermenschen bei Nietzsche. Der Mensch, der nicht spielt, um zu gewinnen, sondern der grundlos spielt und sich durch diese seine Absurdität dem anbietet, was kein Spiel ist. Da es sich um ein grundloses Engagement handelt, ist man nicht gebunden. Ich stürzte mich, natürlich, in die Spiele der bildenden Künste, weil sie offensichtlicher Spiele sind als die Wissenschaft, die Ideologien oder die diachronische Künste, wie Musik und Literatur. Ich nahm mit bedeutenden und weniger bedeutenden brasilianischen Künstlern Kontakt auf, mit ihren Kunstrichtungen, ihren Äußerungen und ihren Widersprüchen. Doch stürzte ich als Spieler in sie hinein, das heißt, als jemand, der sie zum Vorwand nimmt. Sie sind für mich Figuren meines Spiels der Übersetzung, das heißt, einer Kritik, die danach trachtet, ihnen einen Sinn zu geben. Sie sind offen aufgrund meiner Methode, nach der ich spiele, das Spiel meiner ars moriendi. Selbstverständlich: Die Hierarchie ist umkehrbar. Für sie spiele ich in Funktion ihrer selbst. Im unendlichen Regress dieser umkehrbaren Hierarchien liegt das große Fragezeichen, welches in dem Maße weicht, in dem die Übersetzung fortschreitet. Ihr ist die Arbeit gewidmet, an der ich engagiert bin: „Reflexaes sobre a traduzibilidade“. Ist diese Widmung ein neues Rufen oder noch das gleiche? Ist der Neue Mensch schließlich noch die Agonie des Alten? Fragen haben nur Sinn, wenn es keine Antworten gibt.
VIII. Zusammenfassung
Ich bin desorientiert, teilweise, weil ich auf dramatische Weise in einem kritischen und empfindlichen Alter entwurzelt wurde, teilweise, weil ich den Glauben an die Ganzheit der grundlegenden Werte verloren habe. Es waren für mich marxistische, und diese nicht weniger grundlegend, selbst wenn es unecht marxistische waren. Doch bin ich vor allem desorientiert, weil der Mensch desorientiert ist. Mein Leben lang versuchte ich mich zu finden, um mich engagieren zu können, und ich suche weiter; das heißt, daß ich mein Leben lang philosophiert habe und weiter philosophieren werde. Die zwei Gefahren des Unheils sind für mich einerseits die leere Großrednerei (das Übermaß an leichtfertiger Religiosität und leichtfertigem Mystizismus) und andererseits der gelehrte Formalismus der anderen (die Sterilität der akademischen Philosophie und ihre Preziösität). Ich bin zum Schriftsteller berufen, und infolgedessen ist die Sprache das Gebiet meiner Suche, durch Berufung (auch wenn ich nicht sagen kann, was „Berufung“ bedeutet, so weiß ich doch, was sie ist). Die Sprache präsentiert sich mir als Spiel, dessen Bedeutung ich suche. Noch habe ich sie nicht gefunden und kann mir die Begegnung gar nicht vorstellen oder mich in sie einfühlen. Es wäre das Ende des Spiels.
So nebenbei und wie zufällig erzeuge ich. Ich veröffentliche, das heißt, ich versuche die Bedingung, in der ich mich befinde, zu ändern. Ich tue es mit vielen Zweifeln und viel Vorsicht. Zugleich ist dieses Publizieren meine einzige Rechtfertigung vor den anderen und vor mir selbst. Es ist auch meine Hoffnung, nicht umsonst gelebt zu haben. Den anderen, ebenso desorientiert, meine Suche mitgeteilt zu haben, die Warnung meines Scheiterns und – vielleicht – einige vage Horizonte. Damit habe ich vielleicht – obwohl sicherlich auf problematische Weise – etwas zu meiner brasilianischen Umgebung beigetragen. Wer weiß, ob nicht – paradoxerweise – diese meine Leistung die Art und Weise ist, mich im Anderen zu orientieren?
Ich bin noch nicht gestorben, und diese Zusammenfassung ist noch kein Abschluß. Ich will noch leben, damit ich sehe, wohin mein Versuch der Übersetzbarkeit führt. Ich will auch noch wegen einer Reihe anderer Neugierden leben. Ich fühle in mir vieles, was sich artikulieren will. Da ist ein immerwährendes Säuseln der noch nicht reifen Sprache in der süßen, schweren und geheimnisvollen Frucht, „Wort“ genannt. Wer weiß, ob ich überhaupt schon zu leben begonnen habe und infolgedessen zu philosophieren – und ob alles, was ich hier geschrieben habe, nichts anderes ist, als eine Einführung, ein Vorwort zum Thema: „Auf der Suche nach Bedeutung?“
© 1991 European Photography, Göttingen/Berlin. Übersetzung aus dem Brasilianischen von Edith Flusser unter Mitarbeit von Vera Schwamborn