Leseprobe „Vom Zweifel“
Vom Intellekt
Mentale Übungen, die zur Disziplin des Yoga gehören, beginnen mit der »Konzentration«. Wen die Neugier oder das Mißtrauen an die westlichen Methoden des Wissens bewegen und wer sich die »Einleitung zu den Geheimnissen des Yoga« kauft, erlebt nach den ersten geistigen Übungen einen seltsamen Schock. Das Buch empfiehlt – kurz gesagt – das Ausscheiden aller Gedanken bis auf einen, willkürlich gewählten, was scheinbar ganz einfach durchzuführen ist. Die große Überraschung liegt in der unglaublich lächerlichen und entwürdigenden mentalen Gymnastik, die dabei erfordert wird. Tatsächlich geht es um eine krampfhafte, den westlichen Augen widerliche Gymnastik. Unser Geist windet sich wie die Glieder des Körpers des Yogi, und wir wissen tatsächlich nicht, wo uns der Kopf steht. Meistens gibt man das erste Stadium der mentalen Übungen auf, weil sie unser ästhetisches Gefühl und unser Gefühl der Würde intelligenter Menschen beleidigen.
Was ist die Ursache für unsere Empörung? Was ist die Ursache für unser Gefühl des Unpassenden, Lächerlichen und Unwürdigen, das die scheinbar so einfachen Übungen begleiten? Die Konzentration enthüllt sofort und ganz klar den Kampf zwischen dem Willen und unserem Intellekt und versucht, den Willen zu stärken. Während der Konzentration dringt der Wille ins Gebiet des Intellekts und scheidet alle Gedanken, bis auf einen einzigen, aus. Es ist der erste Schritt in Richtung der Eroberung des Intellekts durch den Willen, Ziel der Disziplin des Yoga. Wir sind indessen durch unsere ganze Tradition an der Übermacht des Intellekts engagiert. In unseren Augen ist das Unterordnen des Willens der »natürliche« Zustand, der folglich gut, schön und richtig ist. Das Vorgehen des Willens gegen den Intellekt scheint eine Revolte zu sein und bedeutet für jeden einzelnen von uns den Kampf der Gesundheit gegen den Wahnsinn; kollektiv bedeutet es den Kampf der Zivilisation gegen den Einbruch der Barbarei. Sollte der Wille siegen, was unvorstellbar ist, wäre es für uns ein apokalyptisches Ereignis. Es wäre der Sieg der Finsternis, die totale Umwertung der Hierarchie unserer Werte, individueller Irrsinn und das Ende der zivilisierten Gesellschaft.
Die einfache Konzentrationsübung bringt uns in direkten Kontakt mit einer anderen Zivilisation und mit einer Hierarchie von Werten, die nicht die unseren sind. Die Konzentrationsübung ist aber nicht barbarisch und undiszipliniert. Im Gegenteil, sie ist ein gut organisiertes Verfahren, mit einer sorgfältigen Technik und einem pragmatisch feststellbaren Resultat. Sie hat alle Anzeichen einer uns äquivalenten Zivilisation, einer Zivilisation, die aber an Kräften engagiert ist, die in unseren Augen barbarisch sind.
Unser Schock und unsere Revolte sind existentiell und nicht spekulativ. Spekulativ sind wir seit langem gewöhnt, den Kampf zwischen dem Intellekt und dem Willen mit Ruhe ins Auge zu fassen. Schon die Romantik preist den Willen zuungunsten des Intellekts, und Schopenhauer, fraglos von der indischen Zivilisation beeinflußt (obwohl es zweifelhaft ist, ob er je in Indien war), gewährt dem Willen in seinen Spekulationen eine ontologisch erstrangige Rolle. Eine ganze philosophische Richtung des 19. und 20. Jahrhunderts (vielleicht die charakteristischste) verläßt den Westen, um sich dem Willen anzuschließen. Bei allen diesen Bemühungen geht es aber um etwas Künstliches, Unauthentisches, es geht um das Aufgeben des Intellekts. Vom existentiellen Standpunkt aus gleicht eine einzige Yoga-Übung Tausenden Abhandlungen von Nietzsche und Bergson. Sie beleuchtet blitzartig das, was Nietzsche und Bergson vorhaben (inter alia), ohne es vielleicht authentisch zu wissen. Da die Konzentrationsübungen ganz entgegengesetzt dem normalen (traditionellen) Denken sind, enthüllen sie auf einfache, fast greifbare Weise einige Aspekte des Intellekts und des Willens.
Ich glaube, Sie nebenbei darauf aufmerksam machen zu müssen, daß ich mich mit Hilfe von Allegorien ausdrücken werde, weil eine Situation beschrieben wird, die über den Intellekt hinausreicht. Die Situation ist die folgende: Im Mittelpunkt steht das »Ich«, das sich auf zwei Weisen ausdrückt: Es denkt und es will. Sobald die Konzentration beginnt, hat das Ich viele Gedanken, die sich alle wie Fäden auf einem Webstuhl verhalten. Im Zentrum läuft der Hauptfaden, der von unserer Aufmerksamkeit stark beleuchtet wird. Um den Hauptfaden laufen Hilfsfäden, die den Hauptfaden begleiten, kreuzen und unterstützen können. Die Hilfsfäden treten unbeachtet aus der Dunkelheit ans Licht, erscheinen und verschwinden wieder im Dunkeln. Sie sind indessen immer gegenwärtig, sind immer alle da, und unsere Aufmerksamkeit kann sich vom Hauptfaden auf sie verschieben, kann die Hilfsfäden beleuchten und kann sie zu Hauptfäden machen. Zugleich will das Ich: Es will den Hauptfaden zum Stehen bringen und will die Hilfsfäden zerstören. Das Ich will einen einzigen Gedanken haben. Nach einer erfolgreichen Konzentration verändert sich die Lage grundsätzlich. Das Ich steht weiter im Mittelpunkt, und vor sich hat es einen einzigen starren, unbeweglichen, toten Gedanken. Eigentlich denkt das Ich nicht mehr, der Gedanke ist tot. Neben dem toten Gedanken steht der Wille des freien Ich. Das Gefühl ist das einer unbeschränkten ziellosen Willensstärke. Dieser Wille beginnt um den toten Gedanken zu kreisen, der bei diesem Prozeß mitkreist. Es kommt auf diese Weise zu etwas, das dem Denken ähnelt und das nicht vom Intellekt, sondern vom Willen angeregt wird. Das Ich meditiert.
Wer die Erfahrung einer angehenden Konzentration und Meditation erlebt hat, wird sich mit meiner Schilderung begnügen. In Worten, folglich intellektuell, wird etwas Unschilderbares beschrieben. Die Worte dieser Schilderung sind folglich nicht symbolisch, wie sie es in einem streng intellektuellen Vortrag wären, sondern sie sind allegorisch. Sie haben nicht die Bedeutung dessen, was sie beschreiben, sondern sie berufen sich darauf, und infolgedessen wird die Schilderung verständlich. Wer aber die Erfahrung nie gemacht hat, dem wird meine Beschreibung schwer verständlich sein, sie wird ihn nicht befriedigen. Ohne die inartikulierte Erfahrung gemacht zu haben, werden die Worte zu Symbolen mit einer exakten Bedeutung. Man muß zugeben, daß es nicht möglich ist, eine inartikulierte Situation beschreiben zu wollen, und das zeigt, bis zu welchem Punkt der Intellekt in sich selbst gefangen ist.
Intellektuell ist meine Schilderung unbefriedigend, weil sie wie jede Allegorie anthropomorph wird. Wir sehen drei Personen – sozusagen drei Götter: das Ich, den Intellekt und den Willen. Gefährlich nähern wir uns folglich der Mythologie. Es ist wahr, daß selbst die Wissenschaft, die so weit entfernt ist von der Mythologie, auf allegorische Personifikation nicht verzichten kann, wie es Worte wie »Gesetz«, »Vererbung«, »Verbraucher« et cetera beweisen. Es ist aber nicht weniger wahr, daß das Demythologisieren auch weiter das Ideal intellektueller Disziplin ist. Wir müssen infolgedessen gestehen, daß unsere Lage intellektuell undurchdringlich und unschilderbar ist.
Das hindert aber nicht daran, daß gewisse Aspekte dieser Situation besprochen werden können. Obwohl wir nichts intellektuell Zufriedenstellendes von den allegorischen Personen, weder vom »Ich« noch vom »Willen«, sagen können, müssen wir sie deshalb aus dem Gespräch ausscheiden, was aber nicht den Intellekt betrifft, der total entmythologisiert werden kann. Er wurde tatsächlich in der Allegorie weniger personalisiert als »verdinglicht«, und zwar wurde er mit einem Webstuhl verglichen, dessen Fäden Gedanken sind. Man muß auf das Bild des Webstuhls und der Fäden verzichten, muß das Bild entmaterialisieren, und die Allegorie verschwindet. Die Beschreibung des Intellekts wird symbolisch und gewinnt die folgende, ganz genaue Bedeutung: Der Intellekt ist das Feld, auf dem es Gedanken gibt. Man könnte einwenden, daß der Begriff »Feld« auch allegorisch ist, doch ist es ein Begriff, den auch die exakte Wissenschaft anwendet. Wir brauchen aber nicht päpstlicher als der Papst zu sein, und wir werden unsere Beschreibung des Intellekts als eine wirkende Hypothese behalten.
Mit der Beschreibung des Intellekts als dem Feld, auf dem sich Gedanken abspielen, überschreiten wir mit mindestens einem Schritt Descartes’ Behauptung »Ich denke, also bin ich«. Unsere Beschreibung des Intellekts erlaubt uns, die Behauptung »Ich denke« zu bezweifeln und sie mit »Es gibt Gedanken« zu ersetzen. »Ich denke« ist die Abkürzung für die Behauptung »Es gibt ein Ich, das denkt«. Descartes’ Methode beweist die Existenz von Gedanken, aber nicht die Existenz eines Ich, das denkt. Sie autorisiert nicht die Behauptung »Ich denke«. Die Behauptung »Ich denke, also bin ich« ist die Abkürzung für »Es gibt ein Ich, das denkt, also gibt es ein Ich, das ist«. Es ist eine pleonastische Behauptung, die außerdem zweifelhaft ist.
Der Intellekt als Feld, auf dem sich Gedanken abspielen, ist ein Begriff, der einerseits enger und andererseits weiter ist als der zweifel-hafte Begriff des Ich. Es ist ein engerer Begriff, weil sich das Ich (welches auch immer seine Wirklichkeit ist, die so sehr bezweifelt wurde) mit dem Denken nicht erschöpft. Zum Beispiel, das Ich will auch. Der Intellekt ist ein weiterer Begriff als das Ich, weil das Ich nicht das ganze Feld, auf dem sich Gedanken abspielen, besetzt. Selbst wenn wir den Umkreis des Begriffs »Ich« erweitern, um alle individuellen Ichs einzuschließen (wie es von einigen heutigen Psychologen gemacht wird), selbst dann schließt dieses Über-Ich nicht das ganze Feld ein, in dem sich Gedanken abspielen. Es gibt zum Beispiel mechanisch erzeugte Gedanken, die von elektronischen Instrumenten hergestellt werden. Das Ich, ein breiterer und zugleich ein engerer Begriff als der Intellekt, ist ein Begriff, auf den bei der Erwägung des Intellekts verzichtet werden kann. Es muß aus der Debatte des Intellekts ausgeschieden werden, und zwar nicht nur seiner Zweifelhaftigkeit und der Gründe wegen, die während der Diskussion über die Konzentration besprochen wurden, sondern auch aus dem Prinzip von »Occams Klinge«. Im heutigen Zustand der Philosophie ist dieses Ideal schwer erreichbar. Wir alle, inklusive dem Autor dieser Arbeit, klammern uns übermäßig an den Begriff des Ich. Die Befreiung vom Ich ist nicht mehr Mystikern vorbehalten, wie es noch vor kurzem der Fall war, sondern sie ist mit Hilfe einer intellektuellen Spekulation zu erreichen, wie es diese Arbeit beweist.
Der Intellekt als Feld, auf dem sich Gedanken abspielen, erübrigt die Frage »Was ist der Intellekt?« Unter »Feld« verstehe ich nicht, was der Intellekt ist, sondern es ist die Art, wie sich etwas abspielt. Die Anziehungskraft der Erde ist nicht »etwas«, sondern es ist, »wie« sich Körper in Beziehung zur Erde verhalten. Auf die gleiche Weise ist der Intellekt die Art, wie sich Gedanken verhalten. Der Intellekt hat keine ontologische Würde außerhalb der Gedanken, er ist kein Sein an sich. Und umgekehrt, es gibt keine losen Gedanken im Intellekt. Gedanken müssen sich auf eine gewisse Art im Intellekt ereignen. Kurz, der Frage »Was ist der Intellekt?« fehlt jeder Sinn. Die Frage ist naiv und im schlechten Sinn des Wortes metaphysisch, ebenso wie es zum Beispiel die Frage ist »Was ist Schönheit?«, »Was ist Güte?« Die richtige Frage ist »Was ist ein Gedanke?« Unser Verständnis hängt von der Antwort auf diese Frage ab und nicht von dem Begriff »Intellekt«. Ihr müssen wir also im folgenden unsere Aufmerksamkeit widmen.
Kehren wir deshalb zu den Konzentrationsübungen des Yoga zurück. Von unserem »natürlichen«, »normalen«, traditionell westlichen Standpunkt aus ist das »Denken« ein intimes, unmittelbares, psychologisches Phänomen. Sollten wir das »Denken« aber von einer Konzentrationsübung aus ansehen, wird es ein äußerliches Phänomen sein, ebenso wie vieles andere, das die Welt ausmacht. Von einer Konzentrationsübung des Yoga aus sind Gedanken ein dichtes und undurchlässiges Netz, das unseren Blick auf die Wirklichkeit verstellt und das Licht der Wirklichkeit trübt. Das Netz der Gedanken ist eine Schicht, die zwischen das Ich und die Wirklichkeit dringt, den Blick auf die Wirklichkeit verstellt, die Wirklichkeit indirekt darstellt und dem »Ich« vorstellt. Das Netz der Gedanken ist, was Schopenhauer »Vorstellung« nennt und dem Willen gegenüberstellt. Das Netz der Gedanken ist folglich der Schleier, aus Illusionen gewoben, der laut der hinduistischen Lehre zerrissen werden muß und Maja genannt wird.
Dieser Blick auf das Denken, der Blick von innen nach außen, erlaubt eine »objektive« Bewertung, weil das Denken als Objekt und nicht Subjekt angesehen wird. Auf diese Weise wird das Denken zum Phänomen der Phänomenologie Husserls, es soll verstanden werden. Wir können gegen das Denken vorgehen und können es untersuchen. Wir werden entdecken, daß das Denken ein Komplex von Elementen ist, die untereinander nach strengen Regeln geordnet sind. Die Elemente nennen wir »Begriffe« und die Regeln »Logik. Das Denken ist eine logische Organisation von Begriffen.
An zweiter Stelle werden wir herausfinden, daß das Denken im doppelten Sinn ein Prozeß ist. Erstens ist das Denken ein Prozeß, der sich in Richtung seiner eigenen Vollendung bewegt. Wir können unterbrochene und unbeendete Gedanken begreifen und das Denken als einen Prozeß in Suche einer Form, einer »Gestalt« ansehen; das ist ein ästhetischer Prozeß. Wenn die Form erreicht wird, gewinnt das Denken eine Aura der Befriedigung, gewinnt das Klima eines perfekten, vollendeten Kunstwerks, und das ist seine »Bedeutung«. Das ganze Denken ist bedeutungsvoll. Und im zweiten Fall ist das Denken ein autoreproduktiver Prozeß, der automatisch zu neuem Denken führt. Wir können Ketten aus Gedanken unterscheiden, in denen die individuellen Gedanken wieder Ketten bilden, die miteinander wie mit Haken verbunden sind, um eine Textur aus Gedanken zu bilden. Ein individueller, ästhetisch bedeutungsvoller Gedanke ist trotz allem voll innerer Un-ruhe. Die dem Denken anhaftende Dynamik äußert sich im Wunsch, sich selbst zu überholen und sich selbst aufzugeben. Dieses Aufgeben des Denkens durch sich selbst kann verschiedene Formen annehmen, aber sobald es zu neuem Denken führt – zu der einzigen Form, die hier interessiert –, wird sie »Logik« genannt. Die »Logik« ist folglich ein ambivalenter Begriff, sie ist die Summe der Regeln des Denkens.
Das Netz der Gedanken kann entweder als eine dynamische Summe von Begriffen angesehen werden, die die Wirklichkeit verhüllen oder enthüllen, die das Ich, von seinen eigenen Regeln verzerrt, in die Wirklichkeit einführen, oder sie kann wie die Wirklichkeit dem von den Regeln des Denkens verzerrten Ich vorgestellt werden. Die Wirklichkeit zeigt sich nur über das Denken. Die »Wirklichkeit an sich« ist mit dem Netz der Gedanken nicht faßbar. So gesehen, entspricht das Netz der Gedanken der »reinen Vernunft« Kants und Kants Regeln, den »Kategorien der reinen Vernunft«. Es ist das Weltbild, an das wir über die klassische philosophische Diskussion gewöhnt sind, die, obwohl sie eine kritische Auffassung des Denkens zu sein scheint, die Beschränkungen des Intellekts zugibt. Sie behandelt das Denken als adaequatio intellectu ad rem, das sie in ihren Voraussetzungen verneint. Im naiven Glauben an den Intellekt gibt sie zu, daß die Wirklichkeit durch das Netz des Denkens verzerrt durchscheint, und behauptet zugleich die Unmöglichkeit jeder Beziehung zur Wirklichkeit an sich. Diese Auffassung muß aufgegeben werden.
Mit dem Aufgeben dieser klassischen Auffassung werden wir vielleicht den ersten Blick auf die Kraft gewinnen, die das Netz des Denkens vorwärts treibt. Dieses Netz kann als ein einziger, riesiger Gedanke aufgefaßt werden, der seiner Erfüllung nachgeht. So wie sich uns jetzt der Gedanke offenbart, unbeendet und von unserem Denken unterbrochen, hat er keine Bedeutung, ebenso wie es kein anderer, unbeendeter und unterbrochener Gedanke hat. Die Kraft, die das Netz des Denkens vorwärts treibt, ist die Suche nach einer Bedeutung, und es ist diese Suche, die absurd zu sein scheint, vom Charakter des Denkens frustriert, sobald die Bedeutung der individuellen Gedanken eine zweitrangige, schmarotzerähnliche Rolle gewinnt. Die individuellen Gedanken sind in dem Maß bedeutungsvoll, wie sie der allgemeinen Bedeutung etwas zufügen. Die Summe der Bedeutungen der einzelnen Gedanken bildet die Kraft, die das Netz erweitert. Das Aufgeben des Glaubens an die letzte Bedeutung des Denkens ist nicht notwendigerweise das Aufgeben der pragmatischen Bedeutung individueller Gedanken. In der »Alles-oder-nichts«-Reaktion liegen der Fehler und die Primitivität der Anti-Intellektualisten.
Laßt uns aufgrund der vorausgehenden Überlegungen unsere Auffassung vom Netz des Denkens formulieren. Es ist eine dynamische Gruppe von Begriffsordnungen, die die Wirklichkeit verhüllt, während man sie eigentlich enthüllen will: Es ist eine Suche nach der Wirklichkeit, die mit dem Aufgeben der Wirklichkeit beginnt. Es ist eine dynamische Gruppe von Begriffen, die die Wirklichkeit verdeckt und bemüht ist, sie zu enthüllen: Es ist eine dynamische Gruppe von Begriffen, die die Wirklichkeit verhüllt, mit der Absicht, sie zu enthüllen. Es ist ein absurdes Vorgehen. Das Netz der Gedanken ist folglich identisch mit dem Zweifel, so wie wir ihn in der Einleitung besprochen haben. Sollten wir den Intellekt als das Feld beschreiben, auf dem es Gedanken gibt, also als das Feld, auf dem sich das Netz der Gedanken ausbreitet, können wir jetzt unsere Beschreibung kurz zusammenfassen: Der Intellekt ist das Feld des Zweifels.
© Edition Flusser/European Photography, Berlin, 1. Aufl. 2006