Leseprobe „Vampyroteuthis infernalis“
Die Kultur des Vampyroteuthis
Seine Kunst
Beide, Vampyroteuthes und Menschen, erwerben Informationen, um sie anderen weiterzugeben. Das tun viele unter den sogenannten höheren Tieren. Bei vielen Säugetieren und Vögeln etwa werden spezifische Verhaltensmodelle (zum Beispiel Jagd oder Flucht) von der Mutter an die Jungen übertragen. Doch ist der Fall bei Menschen und, in Analogie, bei Vampyroteuthes anders. Es geht nämlich darum, die erworbenen Informationen in Gedächtnissen zu speichern, diese Gedächtnisse mit immer neuen Informationen zu füttern und sie, so bereichert, weiterzugeben. Bei Menschen und Vampyroteuthes ist die Informationsübertragung ein kumulativer Prozeß, das heißt, sie sind historische Tiere, gleichsam Tiere, die ihre Tierheit überwunden haben.
Tierisch ist, ererbte Informationen mittels Keimzellen von Generation zu Generation zu übertragen, wobei sich das übertragene Erbgut zufällig (durch Irrtum bei der Übertragung) verändern kann, um neue Informationen zu bilden. Übertierisch ist, erworbene Informationen mittels konventioneller Codes zu übertragen, diese Informationen absichtlich immer wieder zu verändern und die Codes selbst zu ändern. Dies ist übertierisch, weil auf die genetische Evolution eine historische gesetzt wird, in welcher die Absicht (ein nebulöser Begriff) den Zufall abgelöst hat.
Das zentrale Problem ist dabei das Gedächtnis. Tiere speichern die zu übertragenden Informationen in den Keimzellen. Diese sind praktisch ewige Gedächtnisse: Sie währen so lange wie das Leben auf Erden. Menschen verwenden für zu übertragende erworbene Informationen künstliche Gedächtnisse, zum Beispiel Bücher, Gebäude, Bilder. Sie sind weit weniger dauerhaft als Eier oder Spermen. Die Menschen sind deshalb auf der Suche nach beständigeren Gedächtnissen: »aere perennius« (dauerhafter als Bronze). Sie wissen, wenn alle künstlichen Gedächtnisse, alles Menschenwerk längst in entropischen Schutt und Trümmer zerfallen ist, wird die menschliche Keimzelle ihre vielleicht zufällig veränderte Information weitertragen. Das Tierische ist dauerhafter als das Übertierische, und das kann nicht hingenommen werden. Denn nicht als Tier, sondern als Übertier will der Mensch »unsterblich« werden. Das Zentralproblem Gedächtnis ist das Zentralproblem der Kunst, die ja im Grunde genommen eine Methode ist, künstliche Gedächtnisse herzustellen.
Vom Standpunkt des Vampyroteuthis handelt es sich hier um einen geradezu lächerlichen Irrtum. Wie kann der Mensch die von ihm erworbenen Informationen unbelebten Gegenständen wie Papier oder Stein anvertrauen? Es ist doch bekannt, daß diese Gegenstände dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik unterworfen sind, demnach zerfallen und vergessen werden müssen. In seinem Abgrund, wo alles in Sedimentation begriffen und wo alles in Flüssigkeit getaucht ist, wird die Unbeständigkeit und Unzuverlässigkeit alles unbelebten Materiellen freilich ersichtlicher als auf der relativ toten Oberfläche der Kontinente, wo ausgebleichte Knochen jahrtausendelang herumliegen können. Und doch: Der lächerliche Irrtum, der zur menschlichen Kunst geführt hat, kann nicht nur belächelt werden (insoweit Vampyroteuthis des Lächelns fähig ist), sondern er verdient, bedacht zu werden.
Wenn wir ein neues Erlebnis oder eine neue Erkenntnis auszudrücken versuchen, wenn wir bisher Unsägliches sagbar und bisher Unerhörtes hörbar zu machen trachten, dann tun wir dies in Funktion eines künstlichen Gedächtnisses, eines unbelebten Gegenstandes. Dabei verflechten sich Erlebnis und Erkenntnis mit dem Gegenstand zu einer unentwirrbaren Einheit. Wir erleben und erkennen in Funktion von Marmor, von Filmstreifen, von Buchstaben einer geschriebenen Sprache. Es ist nicht so, daß wir zuerst einmal etwas erleben und erkennen und anschließend in der Gegend nach einem Gegenstand herumsuchen, um das Erlebnis darin auszudrücken, sondern wir erleben und erkennen bereits als Bildhauer, als Filmemacher, als Schriftsteller, kurz: als Künstler. Die materiellen, unbelebten Gegenstände (Steine, Knochen, Buchstaben, Zahlen, Musiknoten) modellieren alles menschliche Erleben und Erkennen.
Jeder Gegenstand ist tückisch, widerstrebt unserem Versuch, ihn zu informieren, weil er träge ist. Und zwar ist jeder Gegenstand auf eine ihm eigentümliche Art tückisch. Der Stein zerbricht, wenn man ihn meißelt; die Baumwolle gibt nach, wenn man sie formt; die geschriebene Sprache verbiegt mit ihren Regeln die in ihr auszudrückenden Gedanken. Das Informieren von Gegenständen und ihre Verwandlung in Gedächtnisse, eben die Kunst ist immer ein Kampf gegen den Widerstand des Objekts. Bei diesem Kampf erlebt und erkennt man das Wesen des Gegenstands, des Steins, der Baumwolle, der Sprache. Dieses Erlebnis und diese Erkenntnis sind neue Informationen, die es gilt, in künstlichen Gedächtnissen festzuhalten. Dadurch entsteht ein sich steigerndes Feedback zwischen Gegenstand und Mensch, mit anderen Worten: »Kunstgeschichte«.
Der Widerstand eines jeden Objekts provoziert den Menschen. Es ist wie ein an den Menschen gerichteter Ruf, einen spezifischen Gegenstand zu informieren. Es gibt Menschen, deren Beruf es ist, Steine zu informieren, und andere, deren Beruf es ist, Sprache zu informieren. Wer seinen Beruf verfehlt, führt ein falsches Dasein. Denn das Feedback zwischen einem spezifischen Gegenstand und einem spezifischen Menschen ist fein abgestimmt, und in seinem Verlauf verändert es Gegenstand und Menschen. Es läßt den Stein Statue und den Menschen Bildhauer werden. Der Gegenstand absorbiert das existentielle Interesse des Menschen. Der Mensch lebt in Funktion seines Gegenstandes. Das läßt ihn vergessen, worauf es in der Kunst ankommt, nämlich Gegenstände in Gedächtnisse zu verwandeln, aus denen andere Menschen Informationen herausholen sollen. Der Künstler vergißt, daß er an der Übertragung erworbener Informationen an andere Menschen engagiert ist, und er erlaubt dem Gegenstand, sein Engagement zu verschlucken. Diese typisch menschliche Absorption des existentiellen Interesses durch das Objekt, diese Arbeitsmoral droht (sic!), aus den Objekten nicht Kommunikationsmedien, sondern Kommunikationsbarrieren zwischen Menschen zu machen. Das ist im Grunde genommen der lächerliche Irrtum, auf dem die menschliche Kunst beruht und der aus vampyroteuthischer Sicht an den Tag tritt.
An ihm können wir beobachten, wie eine Kunst aussieht, die diesem Irrtum nicht verfällt, die sich nicht in objektiven Widerständen verfängt, die intersubjektiv und immateriell ist. Eine Kunst also, die nicht künstliche Gedächtnisse herstellt (Kunstwerke), sondern die ihre Informationen unmittelbar an die Gehirne der Artgenossen weitergibt, damit sie dort gespeichert werden. Kurz gesagt, der Unterschied zwischen unserer und der vampyroteuthischen ist dieser: Wir haben gegen die Tücke der Materie zu kämpfen, er gegen die Tücke der anderen Vampyroteuthes. So wie unsere Künstler Marmor, meißeln die vampyroteuthischen die Gehirne ihrer Empfänger. Ihre Kunst ist nicht objektiv, sondern intersubjektiv: Sie versucht nicht in Werken, sondern im Gedächtnis der anderen unsterblich zu werden.
Die Strategie der vampyroteuthischen Kunst, zum Beispiel seiner Hautmalerei, kann folgendermaßen geschildert werden: Er erlebt etwas Neues und versucht, diese Neuigkeit im Gedächtnis seines Gehirns zu lagern, das heißt ihr einen Platz unter den bereits dort gelagerten Informationen zuzuweisen. Er stellt fest, daß sich die Neuigkeit nicht einordnen läßt, daß sie nicht hineinpaßt. Er muß sein Gedächtnis umorganisieren, um es der Neuigkeit anzupassen. Sein Gedächtnis ist von der Neuigkeit erschüttert, und er muß sie verarbeiten (was wir Menschen »schöpferische Tätigkeit« nennen). Diese kreative Erschütterung durchströmt seinen Organismus, ergreift ihn, und die Chromatophora auf seiner Hautoberfläche kontrahieren sich und sekretieren Farbstoff. Zugleich erlebt er einen künstlerischen Orgasmus, bei dem die Farbejakulation auf der Haut in den vampyroteuthischen Farbcodes verschlüsselt wird. Der Geschlechtspartner wird provoziert und neugierig gemacht auf die artikulierte Neuigkeit. Diese Neugier verführt den Partner zur Kopulation. Sie wird zu einem Gespräch, in dessen Verlauf die Neuigkeit ins Gedächtnis des Partners dringt, um in seinem Gehirn gelagert zu werden. Wie sie von dort zu anderen Vampyroteuthes gelangt, wie sie ins allgemeine vampyroteuthische Gespräch vorstößt, ist von hier nicht auszumachen. Jedenfalls ist die neue, erworbene Information jetzt im vampyroteuthischen Gespräch aufgehoben – und solange es Vampyroteuthes gibt, bleibt sie erhalten.
Der schöpferische Prozeß der vampyroteuthischen Kunst besteht demnach aus zwei Phasen. Erstens, die Datenverarbeitung durch den Künstler selbst: Das bisher Unsägliche und Unerhörte wird artikuliert, und zwar als Ejakulation im Orgasmus. Zweitens, das Verführen des Partners: Ein Kunstgriff bringt den anderen zum Orgasmus, um es ihm zu ermöglichen, das Artikulierte in seinem Gedächtnis zu lagern. Künstlerisches Schaffen ist daher Ausdruck aus sich hinaus und Eindruck auf den anderen. Es ist Vergewaltigung des anderen, um im anderen unsterblich zu werden: Kunst als Strategie der Vergewaltigung, des Hasses; Kunst als Täuschung, als Fiktion, als Lüge; Kunst als trügerischer Schein, also als »Schönheit« – und dies alles in der Stimmung des Orgasmus.
Es ist nicht zu leugnen: Wir müssen in der gebotenen Schilderung der vampyroteuthischen Kunst die Grundzüge unserer eigenen wiedererkennen. Nichts ist uns fremd an diesem schöpferischen, orgiastischen Betrügen. Und nicht nur ist es uns nicht fremd, sondern wir sind eben daran, unsere Kunst zu vampyroteuthisieren, dem grundlegenden Irrtum unserer Kunst die Stirn zu bieten, den verschlungenen Umweg über materielle Objekte aufzugeben, dem Kunstwerk zu entsagen und eine immaterielle, intersubjektive Kunst zu wagen. Wir haben das Vertrauen zu den materiellen Objekten als künstliche Gedächtnisse verloren und beginnen, einen anderen Typ von künstlichen Gedächtnissen her- und immaterielle intersubjektive Mediationen aufzustellen. Zwar sind diese Medien nicht Lichtorgane auf unserer Haut, aber sie sind auch elektromagnetisch. Eine vampyroteuthische Revolution ist im Gange.
Die vampyroteuthische Kunst mag als Modell zum Verständnis dieser Kulturrevolution dienen: Die Geschichte der menschlichen Kunst läßt sich in drei ungleich lange Abschnitte teilen. Bis zur ersten industriellen Revolution, für die Dauer der Industriegesellschaft und seit der zweiten industriellen Revolution bis in eine noch unvorstellbare Zukunft. Während der ersten Phase war Kunst (»techne«, »ars«) die Strategie, Informationen in Gegenstände zu graben (Stein, Leder, Eisen, Sprache), und Baumeister, Schuster, Schmiede und Schriftsteller waren Künstler. Der moderne Unterschied zwischen Kunst und Handwerk war sinnlos. Die Industrierevolution hat Stahlwerkzeuge hergestellt und sie in Maschinen eingebaut, so daß Stein, Leder und Eisen nicht mehr von Künstlern, sondern mechanisch informiert wurden. Baumeister, Schuster und Schmiede wurden überflüssig, und das Informieren der entsprechenden Gegenstände wurde nicht mehr als Kunst angesehen. Die Werkzeugmacher und Maschinenbauer, die Techniker also, haben die Handwerker, diese vorindustriellen Künstler, verdrängt und sind zu den eigentlichen Schöpfern der Information geworden. Als archaischer Rest blieb das nicht-mechanisierbare Informieren von Gegenständen übrig – das, was die bürgerlich-industrielle Gesellschaft von nun ab »Kunst« nannte, um es, dem täglichen Leben entrissen, in Museen und anderen glorifizierten Gettos in Form von Werken aufzubewahren.
Vor der ersten industriellen Revolution war es schwierig, die aufzudrückende Information vom informierten Gegenstand zu unterscheiden. Die Information befand sich im »Kopf« des Künstlers, und sie wurde erst im Werk ersichtlich. Mit der Erfindung des Stahlwerkzeugs ist die aufzudrückende Information sichtbar und greifbar geworden. Die moderne Technik ist nicht, wie es die vormoderne Kunst war, das Aufdrücken von Informationen auf Gegenstände durch Künstler, sondern sie ist das Ausarbeiten der aufzudrückenden Information durch Techniker und das Aufdrücken dieser Information auf Gegenstände durch Maschinen. Dadurch hat sich das existentielle Interesse von den immer billiger werdenden informierten Gegenständen zu der immer teurer werdenden aufzudrückenden Information verschoben. Man wurde vampyroteuthischer. Die zweite industrielle Revolution war die Folge.
Die aufzudrückenden Informationen werden nicht mehr in Form von Stahlwerkzeugen hergestellt, sondern mit Hilfe von künstlichen Intelligenzen symbolisch, also immateriell ausgearbeitet und in automatische Apparate gefüttert, welche daraus Stahlwerkzeuge erzeugen. Diese Stahlwerkzeuge werden in automatische Maschinen eingebaut, wo sie Gegenständen aufgedrückt werden, um diese zu informieren. Dadurch verändert sich das menschliche Dasein. Der Mensch verwirklicht sich nicht mehr im Kampf gegen den tückischen Widerstand der trägen Objekte, denn diesen Kampf kann er Maschinen und Apparaten überlassen. Menschliche Arbeit wird überflüssig. Der Mensch verwirklicht sich von nun ab im Ausarbeiten neuer, immaterieller Informationen, das heißt in jener Tätigkeit, die »Verarbeitung von Software« genannt wird. In diesem Kontext verweist »Soft« fraglos auf Weichtiere.
Vampyroteuthis ist ein Weichtier, das derart komplex ist, daß es sich gezwungen sieht, zu Wirbeltierstrategien zu greifen und einen Schädel auszubilden. Wir sind Wirbeltiere, die derart komplex sind, daß sie sich gezwungen sehen, zu Weichtierstrategien zu greifen und immaterielle Kunst auszubilden. Unser Interesse an Objekten beginnt zu schrumpfen, wir sind dabei, Medien herzustellen, durch welche hindurch wir menschliche Gehirne vergewaltigen, um sie zum Speichern immaterieller Informationen zu zwingen. Wir bilden Chromatophora aus (Fernsehen, Video, synthetisierte Bilder übertragende Computermonitore), mit deren Hilfe die Sender die Empfänger lügnerisch verführen – eine Strategie, die in Zukunft zweifellos »Kunst« genannt werden wird (falls man nicht entscheiden wird, diesen Begriff aufzugeben).
Angesichts der heranbrechenden Zukunft ist jede Verherrlichung der Kunst, des Künstlichen, des Kunstbegriffs, kurz: der verführerischen Strategie fehl am Platz. Es wäre eine Verherrlichung des Vampyroteuthis. Und doch: Als Tiere, die ihre Tierheit überwunden haben (oder meinen, sie überwinden zu sollen), müssen wir uns ebenso wie Vampyroteuthis an der Unsterblichkeit im anderen engagieren. Wir müssen uns an der Kunst engagieren. In diesem unserem Engagement taucht Vampyroteuthis eben in uns auf. Wir werden zusehends vampyroteuthischer.
© Edition Flusser/European Photography, Berlin, 4. Aufl. 2018