Leseprobe „Die Schrift“
Vorschriften
Eine Methode, die mit der informatischen Revolution emportauchende Denkart zu erahnen, ist jenen anzusehen, die Apparate manipulieren, welche neue Zeichen in elektromagnetische Felder setzen. Das sind Leute, die auf Tasten drücken. Sie tun dies, um Apparate zu programmieren. Das Wort »Programm« ist das griechische Äquivalent des lateinischen »praescriptio« und des deutschen »Vorschrift«. Schreiben diese Leute noch immer oder schon wieder? Liegen zeitgenössische Reaktionäre richtig, wenn sie behaupten, daß sich im Grunde nie etwas ändert, daß das »Wesentliche« immer gleich bleibt? An wen aber schreiben diese Leute? Sie schreiben doch nicht über einen Schlußpunkt hinweg an einen anderen Menschen, sie schreiben vielmehr an und für Apparate. Haben die vorangegangenen Überlegungen nicht gezeigt, daß das Schreiben an andere Menschen das »Wesentliche« des Schreibens ausmacht? Also hat sich bei diesen Leuten das »Wesentliche« des Schreibens verändert: Es ist ein anderes Schreiben und müßte demzufolge einen neuen Namen bekommen: »Programmieren«. Das ist nicht nur unbequem für Reaktionäre, es ist entsetzlich.
Dieses Entsetzen angesichts des Neuen ist zunächst einmal von einer scheinbar harmlosen Seite her zu fassen. Die Leute schreiben nämlich nicht mehr alphabetisch, sondern sie verwenden andere, sogenannte binäre Codes. Die künstlichen Intelligenzen sind (vielleicht nur vorläufig) zu dumm, um Buchstaben entziffern zu können. Zwar sind die neuen Computercodes außerordentlich einfach (so simpel eben wie künstliche Intelligenzen), doch ist es nicht einfach, sich ihrer zu bedienen. Sie sind strukturell einfache und funktionell komplexe Systeme. Die meisten von uns haben ihre Handhabung nicht gelernt, hingegen haben wir alle das Alphabet gelernt, und der Buchdruck hatte eine allgemeine, demokratisierende Alphabetisierung zur Folge. Mit den neuen Computercodes sind wir wieder illiterat geworden. Eine neue Kaste von Literati ist entstanden. Die neuen Schrift-stücke (die Computerprogramme) sind für die meisten von uns in jenes Geheimnis gebadet, welches alphabetische Schriften vor der Erfindung des Buchdrucks umhüllte. Was unentzifferbar ist, ist ein entsetzliches Geheimnis, man fällt davor in die Knie (»supplex turba«) und versucht, ihm auszuweichen (das Goldene Kalb vor den beiden Tafeln). Selbstredend ist nichts einfacher, als das Geheimnis zu lüften. Man braucht die Geheimcodes (im Fall der Römer und Juden das Alphabet, in unserem Fall die Computercodes) nur zu lernen. Aber unser Entsetzen vor dem Neuen macht gerade das unmöglich. Nur unsere unerschrockenen Kinder lernen es spielend. Wir müssen es anders versuchen, wir müssen mit unserer typografischen Denkart versuchen, dem nachtypografischen »Schreiben« auf die Schliche zu kommen. Da der vorliegende Essay buchstäblich ist, wird er versuchen, dem Entsetzen vor den Programmen zu entgehen.
Wenn man unter »Programm« ein Schriftstück verstehen will, das sich nicht an Menschen, sondern an Apparate richtet, dann hat man schon immer, seit der Erfindung der Schrift und vor den Apparaten, programmiert. Man hat nämlich schon immer an Menschen geschrieben, als wären die Menschen Apparate. Man hat Menschen Verhaltensmodelle vorgeschrieben. Und diese Vorschriften bilden einen gewaltigen roten Faden im voranfließenden Gewebe jenes Diskurses, den wir die westliche Literatur nennen. Nimmt man diesen Faden als Leitfaden für eine Gesamtsicht auf die Geschichte des Westens, dann läßt sich die Entwicklung folgendermaßen darstellen: Zu Beginn, seit den chammurapischen Tafeln, waren diese Vorschriften »Gebote«; dann, seit den Duodecim tabularum, wurden daraus »Gesetze«, die sich später in »Dekrete«, »Verordnungen« und andere Befehlsformen verzweigten; sodann, seit der industriellen Revolution, kamen Vorschriften hinzu, die das Verhalten von Menschen mit Maschinen betrafen, nämlich »Gebrauchsanweisungen«; bis schließlich, seit der informatischen Revolution, die oben besprochenen »Programme«, nämlich Vorschriften an Maschinen, diese Entwicklung vollenden. Programme sind also nicht nur eine völlig neue Schreibart, sie sind außerdem eine Vollendung einer Tendenz, die bereits in den ersten Schriften angelegt war.
Der eben geschilderte Faden der Vorschriften (und damit die sich in ihm artikulierende Geschichte des Westens) kann auf verschiedene Arten gedeutet werden. Zum Beispiel als Desakralisierungstendenz. Die »Gebote« (etwa die zehn) waren heilig, sie hatten einen göttlichen Autor. Es war eine übermenschliche Autorität, welche aus Menschen Marionetten (Apparate) machte. Die »Gesetze« (etwa die konstituierenden Grundgesetze) hatten einen wenn nicht göttlichen, so zumindest mythischen Autor (das »Volk« zum Beispiel), und es war diese mythische Autorität, die das Verhalten der Menschen manipulierte. Bei allen späteren Vorschriften wurde es immer deutlicher, daß sie von Menschen gemacht sind, welche andere Menschen manipulieren. Bei den »Gebrauchsanweisungen« stellt sich heraus, daß die Absicht aller Vorschriften ein maschinenhaftes, automatisches Verhalten des Menschen ist. Darum werden die Gebrauchsanweisungen desto kürzer, je automatischer die Maschinen werden – bis sie im Falle der Vollautomation überflüssig geworden sind. An ihre Stelle treten dann die Programme. Bei ihnen muß nicht mehr Menschen vorgeschrieben werden, es kann statt dessen an Apparate vorgeschrieben werden. Es stellt sich demnach heraus, daß die Tendenz der Vorschriften (und der westlichen Geschichte) auf ein völlig profanes Verhalten hinzielt und daß, wenn dieses Ziel erreicht ist, es sich erübrigt, den Menschen überhaupt noch etwas vorzuschreiben beziehungsweise sie zu manipulieren. Sie verhalten sich automatisch so, wie sie sich verhalten sollen.
Man kann den Faden der Vorschriften ebensogut als eine Tendenz zur Entwertung, zur Verwissenschaftlichung des Verhaltens ansehen (falls unter »Wissenschaft« ein wertfreies Denken und Handeln zu verstehen ist). Die »Gebote« schreiben ein Verhalten vor, das sich nach »ewigen« Werten richtet, die »Gesetze« ein nach »hohen« Werten gerichtetes Verhalten, alle darauf folgenden Vorschriften werden immer wertfreier, bis schließlich die Gebrauchsanweisungen nur noch ein funktionelles Verhalten betreffen. Also geht es um ein fortschreitendes Entpolitisieren und Funktionalisieren des Verhaltens, was am syntaktischen Aufbau der Vorschriften abzulesen ist. Sie werden aus imperativen Propositionen (»Du sollst«) zu funktionellen »Wenn/Dann«-Propositionen. Das Gebot »Du sollst Vater und Mutter ehren« wird zur Gebrauchsanweisung »Wenn du Hühnersuppe essen willst, dann verhalte dich so und so mit einer Hühnersuppenkonserve«. Diese fortschreitende Entwertung des Handelns findet bei den Programmen ihren Abschluß. In nach logischer Analyse aufgestellten Computerprogrammen gibt es kein Symbol für »sollen«. Es stellt sich demnach heraus, daß die Tendenz der Vorschriften (und der westlichen Geschichte überhaupt) auf ein völliges Entpolitisieren alles Verhaltens hinzielt und daß, wenn dieses Ziel erreicht ist, der Mensch und die Gesellschaft wie ein kybernetisches System automatisch sich selbst steuern.
Diese beiden Deutungen der in den Vorschriften enthaltenen Tendenz vermitteln eine Ahnung der emportauchenden funktionellen Denkart: Es ist eine profane, wertfreie Denkart. Sie ist nicht mehr mit historischen, politischen, ethischen Kategorien zu fassen. Andere, kybernetische, komputierende, funktionelle Kategorien sind auf sie anzuwenden. Deshalb ist das Programmieren nicht eigentlich ein Schreiben zu nennen. Es ist eine Geste, in welcher eine andere Denkart zum Ausdruck kommt als beim Schreiben.
Bleibt die Frage, ob der eben unternommene Versuch, das Programmieren zu entmythisieren, das Entsetzen zerstreut hat. Selbstverständlich kann man die Sache von einem optimistischen Standpunkt aus angehen. Seit die Programme an Apparate vorgeschrieben werden, wird die Last der Vorschriften von den Menschen auf unbelebte Objekte abgeschoben, und die Menschen werden frei, sich so zu verhalten, wie sie wollen. Somit hätte die in den Vorschriften enthaltene und sich in den Programmen vollendende Tendenz die Freiheit zum Ziel. Apparate verhalten sich besser und schneller als Menschen: Sie setzen besser Autos zusammen, sie nähen besser, graben besser, und in Kürze werden sie auch besser Kirschen pflücken als Menschen. Und sie denken auch besser: rechnen, zeichnen, entscheiden sich schneller. (Seltsamerweise rechnen sie besser, als sie Kirschen pflücken.) Und die Menschen können sich von nun ab auf das Programmieren von Apparaten konzentrieren. Ist das etwa nicht die seit Beginn der Geschichte angestrebte Freiheit?
Es kommen einem dabei zwei ganz verschieden geartete Bedenken. Das erste und naheliegende ist ziemlich leicht zu beheben. Es besagt, daß nicht alle Verhaltensweisen auf Apparate abgewälzt werden können und daß es gerade diese nicht automatisierbaren Verhaltensweisen sind, welche die Würde des Menschen ausmachen, zum Beispiel das vom Gebot »Ehre Vater und Mutter« gemeinte Verhalten. Das ist ein Irrtum. Alle Verhaltensweisen, wie auch immer, sind programmierbar und automatisierbar. Man muß sie nur in Verhaltenselemente, in Aktome zerlegen und dann wieder zurückkomputieren. Eben dieses Zer-legen und Rückkomputieren heißt programmieren. Das im oben erwähnten Gebot gemeinte Verhalten läßt sich in Aktome vom Typ »Füttere deine bettlägerige Mutter mit Reisbrei« zerlegen. Apparate werden sich besser, schneller und exakter als Menschen nach diesem Gebot verhalten.
Das zweite Bedenken gegen den Optimismus wiegt schwerer. Es besagt, daß eine Befreiung des Menschen vom Sich-verhalten-Müssen auf totale Unfreiheit hinausläuft. Wenn keine Notwendigkeit besteht, sich irgendwie zu verhalten (zu arbeiten, zu gehen, zu sitzen, zu rechnen, zu zeichnen), dann wird alles Verhalten zu einem »acte gratuit«, zu einer sinnlosen und absurden Gebärde. Erst im Kampf gegen die Notwendigkeit, so sagt dieser Einwand, kann sich die Freiheit entfalten. Unfreiheit ist ebensosehr in der totalen Unbedingtheit wie in der totalen Bedingtheit. Dagegen wäre aus optimistischer Sicht einzuwenden, daß überhaupt jedes menschliche Verhalten, sei es laut Vorschrift oder nicht, angesichts des Todes (der Notwendigkeit zu sterben) absurd ist und daß im Grunde alle Vorschriften schon immer die Absicht hatten, diesem Absurden einen Sinn zu geben. Wenn die Vorschriften von Menschen auf Apparate abgewälzt werden, so werden die Menschen frei, dem absurden Verhalten der Apparate (und damit ihrem eigenen Verhalten in Funktion der Apparate) einen Sinn zu geben. Programmieren heißt demnach Sinngebung, und die hinter dem Programmieren verborgene Absicht ist, den Menschen für eine Sinngebung der Welt und seines Lebens darin frei zu machen.
Beharrt man auf diesem das Entsetzen vor dem Programmieren zerstreuenden Optimismus, dann kann man sagen, daß mit dem Überholen des Schreibens durch das Programmieren das Ziel der Geschichte erreicht ist. Alles Verhalten wird profan, wissenschaftlich, funktionell, unpolitisch, und die Menschen sind frei, diesem Verhalten einen Sinn zu geben. Die Geschichte, und die diese Geschichte erzeugende Denkart, ist vollendet. Eine neue, nachgeschichtliche, dem Absurden sinngebende Denkart taucht empor. Ob dieser Optimismus tatsächlich alle Betroffenen befriedigt, sei dahingestellt. Akzeptiert man ihn, bleibt die Frage, ob denn wirklich alles Schreiben vom Programmieren überholt wird. Alle Vorschriften werden programmierbar, aber es werden doch nicht nur Vorschriften geschrieben. Die Literatur besteht doch nicht nur aus lauter Geboten, Gesetzen und Gebrauchsanweisungen. Und diese anderen Fäden im Gewebe der Literatur sind doch wohl nicht programmierbar. Also wird doch weitergeschrieben werden. Und in diesem Weiterschreiben wird sich die historische, politische, wertende Denkart bewahren.
Auch dieser (reaktionäre) Einwand erweist sich als Irrtum. Es ist schon wahr, nicht alle Literatur besteht aus Vorschriften, aus Verhaltensmodellen. Es gibt auch Erkenntnismodelle (zum Beispiel wissenschaftliche und philosophische Texte) und Erlebnismodelle (zum Beispiel Dichtung und alles, was mit »belles lettres« gemeint ist). Die Einteilung der Literatur in Verhaltens-, Erkenntnis- und Erlebnismodelle folgt der klassischen und seit der Industrierevolution nicht mehr aufrechtzuerhaltenden Einteilung der »Ideale« in »gut«, »wahr« und »schön«. Wir verfügen gegenwärtig über Methoden, mit denen wir Erkenntnis- und Erlebnismodelle auf Verhaltensmodelle reduzieren können, indem wir alle Propositionen auf »Wenn/Dann«-Propositionen zurückführen. Der Propositionskalkül gestattet, alle wie immer gearteten Aussagen in Funktionen zu übersetzen. Alle Literatur wird programmierbar.
Programmierte Literatur wäre eine Situation, in der alle Texte zuerst auf Vorschriften zurückgeführt wären, um dann von künstlichen Intelligenzen komputiert zu werden. Daß auf diese Weise außerordentlich wirksame Erkenntnis- und Erlebnismodelle hergestellt würden, ist an den bereits verfügbaren synthetischen Bildern erkenntlich. Die binär, digital codierten Erkenntnismodelle, von einfachen statistischen Kurven bis zu komplexen Darstellungen ganzer Theorien, die da auf den Bildschirmen aufleuchten, stellen an Eindrücklichkeit und Ausdrücklichkeit alle wissenschaftlichen, alphanumerisch codierten Texte in den Schatten. Die sogenannte Computerkunst erzeugt bereits jetzt Erlebnismodelle (fantastische, »unmögliche« Konfigurationen), die zwar Bilder sind, aber Bilder, die auf digital codierten Programmen beruhen, die ihrerseits als Transcodierungen von alphanumerisch codierten Texten anzusehen sind. Diese außerordentlich starken Erlebnismodelle sind in erster Linie als programmierte Dichtung und Fiktion, erst dann als »bildende Kunst« zu betrachten. Somit scheint der optimistische Standpunkt zur Programmierung alles Schreibens berechtigt: Wenn das alphabetische Schreiben vom digitalen Programmieren ersetzt sein wird, dann werden alle bisher von Texten über-mittelten Botschaften, alle Verhaltens-, Erkenntnis- und Erlebnismodelle wirksamer und schöpferischer durch die neuen informatischen Medien übermittelt werden.
Wir sollten uns jedoch von diesem Optimismus nicht mitreißen lassen. Durch das Programmieren von all dem, was bisher alphanumerisch geschrieben wurde, wäre zwar viel gewonnen, aber das Entsetzen der Reaktionäre ist doch nicht so ohne weiteres von der Hand zu weisen. Es ginge nämlich beim Umcodieren der alphanumerischen in digitale Codes etwas verloren, das nicht nur von Reaktionären als das Wert-volle beim Schreiben angesehen werden könnte. Es ginge die gesprochene Sprache als Vermittlerin zwischen Denken und Schreiben verloren. Die digitalen Codes sind ideografisch in dem Sinne, daß sie Begriffe (»Ideen«) ersichtlich machen. Sie bedeuten, anders als das Alphabet, keine gesprochenen Laute. Das Denken würde sich beim Programmieren des vorher alphabetisch Geschriebenen von der Sprache losgelöst haben. Und das ist entsetzlich.
Das Schreiben, so wie wir es in der Schule gelernt haben, ist eine Geste des historischen Bewußtseins. Das Programmieren, so wie es unsere Kinder zu lernen beginnen, ist eine Geste eines anders gearteten, eines weit eher mit dem mathematischen als mit dem literarischen vergleichbaren Bewußtseins. Die Codes, derer es sich bedient, sind ebenso ideografisch wie die Ziffern. Daß das mathematische Denken unhistorisch ist, zeigte schon Wittgenstein mit seiner Bemerkung, es sei sinnlos, »Zwei und zwei ist vier um sechs Uhr nachmittags« zu sagen. Das mathematische Denken aber war bisher organisch in den alphanumerischen Code getaucht, es wurde vom Fluß des historischen Denkens mitgerissen. Jetzt taucht das Programmieren aus dem alphanumerischen Code empor, löst sich davon ab und trennt sich von der gesprochenen Sprache. Das berechtigt zu einigem Pessimismus.
© Edition Flusser/European Photography, Berlin, 5., durchges. Aufl. 2002