Leseprobe „Briefe an Alex Bloch“
Vorwort: Alex Bloch
Das Wort »Genie« ist abgegriffen und romantisiert und sollte tunlichst vermieden werden. Aber es gibt Fälle, in denen man es in Demut annehmen muß (wie uns Jaspers lehrte). Dies ist einer dieser Fälle – jedoch problematischerweise. Normalerweise äußert sich das Genie durch Werke, das heißt durch Wirklichkeiten, die nach einem überzeugenden Modell perfekt umgeformt wurden. Das eben unterscheidet das Genie vom Träumer einerseits und vom Techniker andererseits. Der Träumer sieht überzeugende Modelle, aber kann sie nicht in die Wirklichkeit umsetzen. Der Techniker setzt Modelle in die Wirklichkeit, die nicht unbedingt überzeugen. Das Genie ist ein träumender Techniker und ein technischer Träumer. Im Falle Blochs ist sein Werk das eigene Leben. Sein »In-der-Welt-Sein« ist die Wirklichkeit, die er nach einem überzeugenden Modell perfekt umwandelt. Das Problem daran ist, daß ein Leben ein Werk ist, das man nicht von einem Abstand aus betrachten kann, weil es den Betrachter mit einbezieht und ihn verwandelt. Teilgenommen zu haben an Blochs Leben (und gewissermaßen noch daran teilzunehmen) ist ein Vorzug und eine Bedingung, derer man sich immer bewußt bleibt.
Er ist Prager Jude, Immigrant nach Brasilien und bewußt bodenlos wie man selbst, aber hier endet die Parallele. Mit rücksichtsloser Ehrlichkeit der Welt und sich selbst gegenüber und mit radikaler Wahrhaftigkeit akzeptiert er nicht nur das Absurde eines jeden Denkens und Handelns, sondern die Nichtigkeit eines jeden Selbstbewußtseins. Leben bedeutet für ihn nichts als erfahren, und erfahren bedeutet den Augenblick fassen. Das heißt, leben bedeutet jeden Augenblick konkret da sein und alle Abstraktion verachten. Konkret aber ist alles Erlebbare, sei es Natur oder Kultur, der Nebenmensch oder gleich welcher Gedanke. Leben heißt, sich in diesem Konkreten zu verlieren. Dies kann man nicht durch passives Warten auf Abenteuer erreichen. Denn das Konkrete fließt zäh und langsam und droht immer, in der Langeweile des Alltäglichen zu versumpfen. Die Langeweile (die Apathie und Ataraxie) ist der Horizont des Lebens. Langeweile ist der Tod, und dagegen muß man kämpfen.
Die Lebenskunst ist, von Erlebnis zu Erlebnis, von Abenteuer zu Abenteuer zu schreiten, auf allen Ebenen des Konkreten. Um dies zu erreichen, muß man über zahlreiche Persönlichkeiten verfügen, über zahlreiche Masken. Zum Beispiel: Verkäufer von technischen Büchern in São Paulo, Einkäufer von Guaraná im Innern Bahias, Diener eines buddhistischen Bischofs in Suzano, Zuhälter in einem Bordell in der Liberdade, Ladenangestellter eines jüdischen Altkleiderhändlers in Bom Retiro, Straßenwagenschaffner, Fernsehtechniker, Urwaldbewohner am Araguaia, Mitarbeiter amerikanischer Missionare in Goiás, musikologischer Spezialist afrikanischer Folklore, logischer Symbolist, Yogin, Spezialist in elektronischer Musik und in Zementkonstruktionen, Börsenspekulant in São Paulo und Bauarbeiter in Stockholm, Lebensgefährte einer brasilianischen Malerin und geistiger Führer einer esoterischen Gruppe in London, praktizierender Katholik und Teilnehmer an Gruppendynamik usw. Das scheinbare Problem dabei, der Selbstverlust hinter den Masken, kommt hier nicht in Frage. Es gibt kein Selbst, das verlorengehen könnte. Das Selbst ist nichts als ein Haken, auf den Masken gehängt werden können. Bloch unterscheidet sich von »echten« Musikologen und bahianischen Strolchen nur durch den Umstand, daß er gewählt hat, so zu sein, und wählen kann, es sein zu lassen.
Das ist Lebenskunst im wahren Sinn des Wortes »Kunst«, denn alle Kategorien eines solchen Lebens sind ästhetisch: Intensität, Vielfältigkeit, emotionale und informative Ladung. Die ästhetische Schärfe und Einsicht, welche Bloch charakterisieren, bewirken, daß er physisch an allem Kitsch, an aller Aufgeblasenheit und aller leeren Gestik leidet. Sich im Konkreten verlieren bedeutet eben alles Abstrakte und Theoretische aus dem Konkreten entfernen und das Rohe und Nackte der Konkretizität erleben. Die Schönheit des Konkreten ist seine Rohheit und Nacktheit. Im Grunde handelt es sich bei Bloch also doch um ein Engagement: gegen die Häßlichkeit aller Ideologien und für die Schönheit des bloßen Erlebens.
Es gibt dafür selbstredend Modelle: der Steppenwolf Hesses, der K. Kafkas, der Fremde von Camus, vielleicht sogar Goethes Mephisto. Aber diese Modelle haben Bloch in ihrer Abstraktion nichts zu sagen. Ein einziges Mal schien er von einem Modell berührt, nämlich von Becketts Molloy. Aber selbst dies ist fraglich. Vielleicht ergab er sich eben nur der Lektüre, wie er es bei allen Erlebnissen tut, die ihm widerfahren. Auch Theorien sind für ihn konkrete Wirklichkeiten. Er erlebt Freud nicht als Theorie des Ödipuskomplexes, sondern er erlebt Freud genauso, wie er den Ödipuskomplex erlebt: als gegebenes Erlebnis. Er ist originell, aber völlig uninteressiert daran, originell zu leben.
Der Dialog mit ihm konnte also nicht die Form eines sokratischen Dialogs, eines Gedankenaustausches haben. Es gab immer ein Gefälle zwischen der eigenen Dialogebene und der seinen. In der Tat nahm der Dialog zwei Formen an: eine, in der man Bloch ein Thema vorlegte, und die andere, in der man selbst das Thema des Dialogs war. Die erste Form nahm den folgenden klassischen Verlauf: Man hatte irgendein Buch gelesen, irgendein Bild gesehen, irgendeinen Film mit angeschaut, irgendeinen Gedanken bedacht, irgendeine Platte gehört, mit irgend jemand gesprochen. Bloch kam, und man stürzte sich auf ihn, um ihm zu berichten. Aus zwei Gründen: Man wollte mit ihm das eben Erlebte teilen und ihm so als Wahrnehmungsorgan der Umwelt dienen. (Man wußte, daß man von Bloch als Organ benutzt wurde und nahm diese Rolle mit Vergnügen auf sich.) Man wollte aber auch, daß Bloch das Erlebte auf seine baren Elemente reduzierte. (Man bediente sich Blochs als Zersetzungselement, und Bloch nahm diese Rolle mit Vergnügen auf sich.) Während des Berichts richtete Bloch die Aufmerksamkeit auf die inneren Widersprüche des Erlebenden und auf die äußeren zwischen einem selbst und dem Erlebten. Das genügte meist schon, um die Hohlheit des gelesenen Buchs, des gesehenen Films, des gedachten Gedankens zu durchblicken. Man teilte mit Bloch die erlösende Belustigung einer Demaskierung von Hohlheit, und schallendes Gelächter war die Folge. Manche Erlebnisse jedoch widerstanden der Blochschen Analyse. Zum Beispiel Wittgenstein und Klee, Bergmans Filme und Händels Messias, Stockhausen und die Idee, den Neopositivismus zu existentialisieren. In solchen Fällen nahm Bloch die eigene Stellung dem Erlebten gegenüber ein und versuchte, durch eine Interpretation zweiten Grades dem Erlebnis auf den Grund zu kommen. Die Konsequenz war die Erkenntnis, warum das Erlebnis für einen selbst gültig war, und der Entschluß, daran weiterzuarbeiten (natürlich man selbst, nicht Bloch, den ja das Arbeiten nicht interessierte). Auch dieser Typ von Dialog hatte erlösendes homerisches Gelächter zur Folge.
Die zweite Form des Dialogs, bei dem man selbst das Thema war, nahm diesen klassischen Verlauf: Man hatte an einem Buch gearbeitet oder einen Essay geschrieben. Man wartete ungeduldig auf Bloch, um ihm vorlesen zu können. Es hat nie einen aufmerksameren Zuhörer gegeben. Während des Vorlesens kritisierte Bloch die ästhetischen und stilistischen Fehler, die einem unterlaufen waren. Blochs Kritik war der lebende Beweis dafür, daß sich gedankliche Unehrlichkeiten immer stilistisch spiegeln. Keine davon entging ihm. Er war mitleidslos und verwundete tief die Eigenliebe, aber man nahm seine Kritik immer an, einfach weil sie immer stimmte. Der eigene Stil und die eigene Denkart sind zum Teil Folgen dieser rücksichtslosen Blochschen Katharsis. Nach der Vorlesung analysierte Bloch nicht so sehr den Inhalt als die Stimmung, in der er geschrieben wurde. Er setzte so den Text in den Kontext der eigenen »Wahrheit«. Man wurde sich bewußt, wie sehr man am Ziel vorbeigeschossen hatte. Die Folge war, daß man vernichtet war und Bloch sich amüsierte. Und man entschloß sich immer wieder, es nächstens besser zu machen. Das eben ist das Wesen des Essays: Versuch zu sein, es nächstens besser zu machen. Daher veröffentlichte man das Geschriebene, denn man wollte sich mitteilen und wußte, daß niemand außer Bloch die Tiefe des Mißglückens erkennen würde. Dafür hatte Bloch allerdings kein Verständnis. Am Schreiben war er wohl interessiert, denn es war Selbstanalyse. Aber Publizieren war für ihn Eitelkeit, und er hatte dafür nur Verachtung. Er selbst mußte eben nicht schreiben, denn das tat man für ihn. Die zweite Form des Dialogs endete also für einen selbst mit dem Entschluß zu weiterer Arbeit und für Bloch mit Gelächter.
Diese Art von Bindung war für einen selbst gefühlsbetont, es war Freundschaft. Für Bloch, der jedes Gefühl ablehnte, weil es seine Freiheit bedrohte, war es reines Spielen. Als er die Gefahr herannahen sah, selbst in Gefühlsgebundenheit zu geraten, schnitt er den Kontakt brutal ab, um ihn später in weniger intensiver Form wiederaufzunehmen. Er nannte das »mentale Hygiene«. Das mußte man anerkennen, denn es war ehrlich. Trotzdem bleibt Bloch der Kritiker »par excellence« alles dessen, was man schreibt, und ihm gegenüber muß man versuchen, sich zu behaupten. In diesem Sinn ist er ein »Alter ego«.
© Edition Flusser/European Photography, Berlin, 1. Aufl. 2000